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Ein Leben am Abgrund

20.05.2016  |  John Mauldin
"Wo Recht verweigert und Armut erzwungen wird, wo Ignoranz herrscht und wo einer ganzen Bevölkerungsschicht das Gefühl gegeben wird, die Gesellschaft hätte sich verschworen, sie zu unterdrücken, zu bestehlen und zu entwürdigen, werden weder Menschenleben noch Eigentum sicher sein." - Frederick Douglass

"Auch ich bin dafür, Gutes für die Armen zu tun, doch was die Mittel und Wege anbelangt bin ich anderer Ansicht. Ich denke, die beste Art Gutes zu tun ist nicht, den Armen ihre Armut zu erleichtern, sondern sie aus der Armut herauszuführen." - Benjamin Franklin

Open in new windowWie viele von Ihnen versuche auch ich die wirtschaftlichen Gegebenheiten zu verstehen, die sich von Tag zu Tag ändern - und selten zum Besseren, zumindest vom Standpunkt der Mittelschicht und der unteren Gesellschaftsschichten aus betrachtet. Auch ich versuche zu verstehen, was um alles in der Welt dazu geführt hat, dass sich die zwei großen politischen Parteien der Vereinigten Staaten sich offenbar verschworen haben, den Bürgern nur die Wahl zwischen "einer Kriminellen und einem Wahnsinnigen" zu lassen, wie Peggy Noonan es ausdrückt.

Ich denke, dass diese beiden Themen miteinander verknüpft sind, nicht nur hier in den USA. Populistische Strömungen erhalten auf der ganzen Welt verstärkten Zulauf. Die Wut und die Frustration der Menschen sind nicht immer rational und sie mögen nicht zu den erhofften Veränderungen führen, aber sie sind real. Die Menschen haben echte Probleme und ihr Vertrauen in die Fähigkeiten traditioneller Parteien und Führungspersönlichkeiten, diese Probleme zu lösen, schwindet.

Letzte Woche hatte ich das Privileg, Peggy Noonan sowohl privat als auch öffentlich treffen zu dürfen. Ms. Noonan verfasste die Reden des US-Präsidenten Ronald Reagan und ist jetzt Kolumnistin für das Wall Street Journal und eine gefeierte Schriftstellerin. Als Autorin zählt sie zu meinen persönlichen Helden, denn sie ist die vielleicht beste Essayistin meiner Generation.

Im Februar, als die Präsidentschaftskampagnen bereits in vollem Gange waren, verfasste Ms. Noonan eine Kolumne mit dem Titel "Trump and the Rise of the Unprotected" ("Trump und der Aufstieg der Schutzlosen"), die mich seitdem beschäftigt. Jeder sollte diesen Artikel lesen, vorzugsweise mehrmals. Er ist wirklich gut.

Was auch immer man persönlich von Donald Trump halten mag - er ist das Symptom eines umfassenderen Trends. Gleiches trifft auch auf Bernie Sanders zu. Ein großer Teil der Bevölkerung lebt am Abgrund, ist verletzlich und schutzlos. Die meisten meiner Leser fallen nicht in diese Kategorie: Sie besitzen eigenen Wohnraum, haben ein regelmäßiges Einkommen und verfügen über ein wenig Investmentkapital. Damit liegen Sie weit über dem Durchschnitt.

Wir werden heute also die realen finanziellen Probleme betrachten, mit denen so viele Menschen tagtäglich zu kämpfen haben. Die Lektüre dieses Artikels wird nicht immer angenehm sein, aber sie ist wichtig. Sie werden anschließend besser verstehen, was wirklich geschieht und warum wir dringend Lösungen benötigen. Sie werden vielleicht auch eine bessere Vorstellung davon bekommen, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt, wenn sich nicht in naher Zukunft etwas Grundlegendes ändert.

Viele der zum Establishment zählenden Republikaner und Demokraten scheinen zu glauben, dass Donald Trump und Bernie Sanders Anomalien darstellen. Das trifft insbesondere auf die Elite der republikanischen Partei zu, die glaubt, dass sie mit ihrem Geld alles kontrollieren kann. Trump ist jedoch keine Anomalie. Er ist der Vorbote einer zunehmenden Frustration, die sich als machtvoller erweist als die Spender aus Unternehmerkreisen und als politische Lobbygruppen wie die Super-PACs.

Peggy Noonan schreibt, dass die aktuelle Unzufriedenheit die logische Fortsetzung von Entwicklungen ist, die ihren Ursprung viel früher haben. Die obere Schicht der Gesellschaft ist zunehmend "geschützt" davor, die Mühsale des Alltags, die die meisten Menschen tagtäglich erleben, teilen oder auch nur sehen zu müssen. Ms. Noonan beschreibt unsere Situation folgendermaßen:

"Es gibt die Geschützten und die Schutzlosen. Die Geschützten entscheiden über die Staatspolitik, die Schutzlosen müssen damit leben. Doch die Schutzlosen beginnen sich zu wehren, mit Nachdruck.

Die Geschützten haben etwas erreicht, sie sind sicher und erfolgreich. Sie haben die Macht oder besitzen Zugang zur Macht. Die sind zum größten Teil vor der Rauheit der Welt geschützt. Genauer gesagt sind sie geschützt vor der Welt, die sie selbst erschaffen haben. Sie machen die Staatspolitik, und das schon seit einiger Zeit.

Ich würde sie gern als die Elite bezeichnen, um die Rhetorik weiter aufzuladen, doch bleiben wir bei den 'Geschützten'.

Sie sind in der Regierung, der Politik und den Medien tätig. Sie leben in schönen, sicheren Vierteln. Sie haben funktionierende Familien, ihre Kinder gehen auf gute Schulen und sie haben finanzielle Rücklagen. All diese Dinge haben die Tendenz, sie zu isolieren, sie bilden einen Puffer. Einige von ihnen - in Washington sind es die hohen Beamten der Exekutive oder des Kongresses, in Brüssel sind es bedeutende Mitarbeiter der Europäischen Union - haben sogar ihren eigenen Sicherheitsdienst.

Weil sie geschützt sind, denken sie, zu könnten so ziemlich alles tun und jede Art der Realität durchsetzen. Sie sind isoliert von vielen Konsequenzen ihrer eigenen Entscheidungen."


Diese Isolation ist heutzutage so verbreitet, dass wir sie nicht einmal bemerken. Sie trifft nicht nur auf die Regierungen zu. Leitende Angestellte eines Unternehmens treffen sich irgendwo in einem schicken Büro, passen ein paar Zahlen an, und auf einer anderen Ebene der Firma verlieren Menschen ihre Arbeit. Diese Mitarbeiter sind tausende von Kilometern entfernt und diejenigen, die die Entscheidungen fällen, werden ihnen nie persönlich gegenüberstehen. Genau das bedeutet es, "geschützt" zu sein.

Im Weiteren erklärt Ms. Noonan, warum gerade Immigration ein Thema ist, dass so polarisiert:

"Viele Amerikaner litten unter den Folgen der illegalen Einwanderung, unter den Auswirkungen, die diese auf den Arbeitsmarkt, die finanziellen Kosten und die Kriminalität hatten. In einigen Gegenden entstand der Eindruck, der Rechtsstaat würde zusammenbrechen. Den Geschützten ist es dabei gut ergangen - ihnen standen mehr Arbeiter zur Verfügung, denen sie niedrigere Löhne zahlen konnten. Es war unwahrscheinlich, dass die Folgen der illegalen Immigration sie persönlich betreffen würden.

Für die Geschützten war es eine positive Entwicklung. Doch die Schutzlosen beobachteten und sahen die Entwicklungen. Ihnen wurde bewusst, dass die Geschützten sich nicht um sie kümmerten und schlussfolgerten, dass sie sich auch nicht um das Land kümmerten.

Die Schutzlosen gelangten zu der Ansicht, dass sie dem Establishment - den Geschützten - nichts schuldig waren, weder Loyalität noch ihre Unterstützung.

Darauf gründet der Erfolg von Donald Trump."


Loyalität und Unterstützung sind Dinge, die in beiderlei Richtung funktionieren. Wir haben jedoch einen Punkt erreicht, an dem die Entscheidungsträger sich so weit entfernt haben von den Menschen, die mit den Folgen ihrer Entscheidungen leben müssen, dass keine der beiden gesellschaftlichen Gruppen der jeweils anderen gegenüber noch Loyalität empfindet. Das ist kein Rezept für eine stabile soziale Ordnung und eine florierende Wirtschaft.

Ich möchte die Gedanken von Ms. Noonan noch etwas weiterführen. Die Geschützten sind nicht nur die Politiker und Bürokraten, die Staatspolitik machen und umsetzen. Es sind vielmehr alle Menschen, die aufgrund ihrer Arbeitsplätze und ihres Einkommens im Allgemeinen in der Lage sind, sich vor den Launen und der Unbeständigkeit des Lebens zu schützen. Sie haben genügend Geld, um einen Anwalt zu engagieren, Ärzte und Handwerker zu bezahlen, Versicherungen abzuschließen usw. und auf diese Weise alle aufkommenden Probleme zu lösen.


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