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Wenn die Zukunft zur Gegenwart wird

18.07.2016  |  John Mauldin
Open in new windowWarum verbringen Investoren so viel Zeit damit, über die Zukunft nachzudenken? Alle Schlüsse, zu denen wir gelangen können, sind notwendigerweise rein spekulativer Art. Niemand hat eine Kristallkugel. Die Befürworter der Markteffizienzhypothese haben recht, wenn sie sagen, dass wir die Zukunft nicht vorhersehen können. Sie liegen jedoch falsch, wenn sie behaupten, dass Prognosen nutzlos seien (und auch mit vielen anderen ihrer Schlussfolgerungen liegen sie ziemlich daneben).

Wir können uns zwar nie zu 100% sicher sein, was die Zukunft bringen wird, doch wir können oft relativ zuverlässige Annahmen treffen. So wie das Universum den bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten folgt, folgt auch die Wirtschaft den Prinzipien menschlichen Handelns. Menschen versuchen, Leid zu vermeiden und Freude zu maximieren. Wenn man vorhersehen kann, auf welche Weise sie das tun, lassen sich die wirtschaftlichen Resultate mit einem hohen Grad an Zuverlässigkeit prognostizieren - wenn auch nicht mit absoluter Sicherheit. Folglich verbringen wir viel Zeit damit, Zukunftsprognosen für unsere Unternehmen oder Investitionen zu erstellen.

Die größte Herausforderung dabei ist das Timing. Wir wissen, was die Menschen tun werden (oder wir denken zumindest, dass wir es relativ gut einschätzen können) - aber nicht, wann sie es tun werden. Wie viel Leid, Frustration oder Enttäuschung können sie ertragen, bevor sie aufgeben und uns überraschen, indem sie sich für eine völlig andere Richtung entscheiden? Das ist eine zentrale Frage für beide Seiten der Diskussion um den Brexit.

Während im Laufe des letzten Monats alle über den EU-Austritt des Vereinigten Königreiches sprachen, hat die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) ihren 86. Jahresbericht vorgelegt. Die BIZ, die ihren Sitz in Basel hat, fungiert als eine Art zentraler Knotenpunk für alle Zentralbanken dieser Welt. Sie wickelt Transaktionen zwischen den Notenbanken und zwischen anderen internationalen Organisationen ab. Sie dient weder Privatpersonen, noch Unternehmen, noch nationalen Regierungen. (Sie dient allerdings sehr wohl als Quelle und Zielscheibe zahlreicher Verschwörungstheorien und gießt mit ihrer legendären Geheimhaltung weiter Öl ins Feuer.)

Positiver eingestellte Beobachter weisen darauf hin, dass die BIZ ökonomische Angelegenheiten viel freimütiger kommentieren kann, als die einzelnen ihr angehörigen Zentralbanken, weil sie vergleichsweise wenig Rücksicht auf politische Befindlichkeiten nehmen muss. Ihre diesbezügliche Offenheit hat in den letzten Jahren immer weiter zugenommen. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren die BIZ-Berichte die ideale Bettlektüre, wenn man abends Probleme hatte einzuschlafen. Heute verwendet die BIZ die besonnene, wohl überlegte Ausdrucksweise der Zentralbanken, um zu sagen: "Wir denken, dass die Dinge wahrscheinlich entgleisen werden!"

Wenn Zentralbanker wie Janet Yellen oder Mario Draghi etwas sagen, dann müssen wir berücksichtigen, dass sie eine bestimmte geldpolitische Strategie verfolgen. Auch die BIZ hat eine Agenda, doch die Bank ist an keine bestimmte Wirtschaft und keine bestimmte Regierung gebunden. Ihre Analysten konzentrieren sich darauf, wie die Welt im Ganzen funktioniert, und wir sollten ihren Warnungen die nötige Aufmerksamkeit schenken. In diesem Artikel werden wir uns also mit dem Jahresbericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich auseinandersetzen, analysieren, inwiefern sich die Ansichten der BIZ von der allgemein vorherrschenden Meinung unterscheiden und diskutieren, warum wir alle die Zukunft voller Sorge betrachten.

Wo auch immer ich gerade bin, scheinen alle von dem Gefühl erfüllt zu sein, dass eine tiefgreifende kulturelle Umwälzung bevorsteht. Wohin wir auch blicken, entdecken wir Gründe zur Sorge. Ben Hunt sagt, dass der Umbruch kommen muss, weil das Narrativ versagt, eine Idee auf die wir später noch zurückkommen werden. Neil Howe, auf dessen Arbeiten ich vor einigen Wochen eingegangen bin, ist der Ansicht, dass der Wandel ein natürliches Element eines rund 80 Jahre währenden Zyklus des Generationswechsels darstellt.

Wir haben diesem Modell zufolge das zweifelhafte Glück, nun in die unbeständigste und kritischste Phase dieses Zyklus einzutreten, in der es häufig zur Krise und anschließenden Katharsis kommt. Diese globalen, zyklischen Ereignisse erstrecken sich dabei über Monate und Jahre hinweg. Oder, wie Lenin gesagt haben soll: "Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts geschieht, und Wochen, in denen Jahrzehnte geschehen."

Beginnen wir mit dem Bericht der BIZ. Das erste Kapitel hat den provokanten Titel "Wenn die Zukunft zur Gegenwart wird". Das ist das Einzige, was wir über die Zukunft mit Sicherheit sagen können: Sie kommt immer, und es ist unsere Aufgabe, sich ihr offen zu stellen.


Riskante Dreierkonstellation

Auf der Strategic Investment Condeference 2015, vor nur etwas mehr als einem Jahr, hatten wir Bill White als Gast, der früher als Chefökonom der BIZ tätig war und heute Vorsitzender des Prüfungsausschusses für Wirtschafts- und Entwicklungsfragen (EDRC) der OECD ist. Ich kenne niemanden, der innerhalb des internationalen Zentralbankengeflechts besser vernetzt ist als er. Im Jahr 2003 drängte er Alan Greenspan bekanntermaßen dazu, die Zinsen anzuheben, damit die US-Notenbank für die nächste Krise einen gewissen Spielraum haben würde - und Bill war überzeugt, dass die innerhalb weniger Jahre kommen würde. Damit lag er völlig richtig. Meiner Einschätzung nach ist Bill verantwortlich für den aktuellen Ton und die aktuelle Richtung der Forschungen und Analysen der BIZ.

Im letzten Jahr sagte Bill, dass die Zentralbanken mit ihrer unbeirrbaren Fokussierung auf die Geldpolitik einen Fehler machten. Er wies völlig zutreffend darauf hin, dass geldpolitische Lösungen nicht geholfen haben und erklärte mit Nachdruck, dass die Ausweitung der aktuellen Maßnahmen auch nicht helfen werde.

Folgendes schrieb ich damals direkt nach der Konferenz:

"Genau darin besteht das Problem einer Geldpolitik, die von der politischen Stimmungslage und den Entscheidungen einer kleinen Gruppe Menschen beeinflusst wird. Sobald eine Rezession ansteht, sehen sich die Leute nach einem Sündenbock um und sie werden auf die Zentralbank zeigen, deren geldpolitischer Kurs nicht so akkommodierend war, wie sie das gewünscht hätten. Sie werden die Zentralbank beschuldigen, statt zu verstehen, dass ein Konjunkturzyklus nun einmal so funktioniert.

Bill White ist mein Lieblingszentralbanker. Die Modelle der Notenbank, so sagte er, sind künstliche Maschinen. Sein bestes Zitat war: 'Darin besteht das Hauptproblem mit den Zentralbanken: Sie denken, sie wüssten, wie die Wirtschaft funktioniert.' Ihre Modelle gehen immer von einer Rückkehr zum Gleichgewicht aus. Doch es gibt kein Gleichgewicht - die Situation ist so, wie sie eben ist. Das Problem an Modellen des wirtschaftlichen Gleichgewichts ist, dass sie die Realität nicht widerspiegeln.

Eine Wirtschaft ist wie das Ökosystem eines Waldes, nicht wie eine Maschine. Wir befinden uns auf einem sehr schlechten Weg. Die Höhe der Schulden ist langfristig nicht tragbar. Betrachten Sie die Situation seit der Finanzkrise von 2008: Die Eurozone ist eine Art verkleinerte Version der globalen Krise. Sparpolitik und regulatorische Einschränkungen sind nicht hilfreich. Als einzige Option bleibt die Geldpolitik, und die führt nicht zu den gewünschten Ergebnissen."



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