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Nicht im Namen des Volkes

23.07.2009  |  Peter Boehringer

Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG): Ein "Nein" zur Ratifikation wäre zwingend gewesen.

Was war nach dem BVG-Lissabon-Urteil nicht alles in der Mainstream-Presse lesen: "Die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon ist gestoppt", "Ein epochales Urteil", "Rückkehr der Nation", "Sternstunde der Demokratie". In Wirklichkeit hat das BVG "Im Namen des Volkes" gegen das deutsche Volk entschieden. Wenn das Gericht seine eigenen Argumente ernst nehmen würde, hätte es den gesamten Vertrag stoppen und ihn einem Referendum unterwerfen müssen. Die Einschränkungen, die das BVG zugunsten der nationalen Souveränitätsrechte gemacht hat, sind entweder die Forderung nach der Quadratur des Kreises oder rein rhetorisch-kosmetisch oder in der EU-Praxis weitestgehend irrelevant.


Die "Ja, aber"-Show des Gerichts

Statt einem eigentlich zwingenden "Nein" hat das BVG ein hochverklausuliertes und weltfernes "Ja, aber" gesagt. Die "aber" sind die Zuckerl für die kritische Öffentlichkeit. Und das juristische Feigenblatt, um den Rechtsstaat wenigstens noch zu heucheln. Das wird den EUliten nicht wirklich weh tun. Der Vertrag von Lissabon wird in kraft treten und das Grundgesetz zu nachrangigem Recht degradieren. Die EU-Kommission wird künftig die unangefochtene Regierung des formal nicht existenten EU-Staats für das formal nicht existente EU-Volk. Da wir ihr und den letztinstanzlichen EU-Richtlinien aber alle unterstehen, gibt es de facto eben doch ein EU-Volk und einen EU-Staat. Dies sogar de jure, denn im Kantschen Rechtsverständnis ist ein Staat "die Vereinigung von Menschen unter Rechtsgesetzen".

Der Bundestag muss nun vor der Ratifikation noch einige Änderungen im Begleitgesetz machen. Der vorsitzende Richter Voßkuhle selbst hat aber noch vor Beginn der Urteilsbegründung und offensichtlich für die Kameras bzw. für die Öffentlichkeit ausgeführt, dass "der Senat zuversichtlich" sei, dass dies "zügig geschehen" könne! Solche Kommentare sind für einen BVG-Richter natürlich völlig unangebracht. Damit verstand aber auch der letzte mithörende Journalist, dass alles noch 2009 klappt und der Vertrag spätestens 2010 in kraft treten kann.

Diese Hauptbotschaft fand sich denn auch prompt in allen Blättern. Dass einige der Urteilsforderungen nur durch Änderungen im Hauptvertrag umsetzbar wären und dessen Ratifikation somit gestoppt werden müsste, fiel kaum jemandem auf. Ganz im Gegenteil zielte Voßkuhles Vorbemerkung auf Zerstreuung genau dieser logischen Folgerung ab. Der Vorsitzende relativierte damit schon vorab das eigene Urteil und lässt größte Zweifel an einer nun gebotenen wörtlichen und strengen Umsetzung der Urteilsforderungen aufkommen.

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Die volksnahe Demokratie erodiert seit Jahrzehnten

Das Hauptproblem an dem Urteil ist, dass es mindestens 15 Jahre zu spät kommt; eigentlich 45. Hätte das BVG schon bei den ersten Souveränitätsanmaßungen der EU (EWG) 1963 die weiteren Integrationsschritte einer strengen Einzelfallüberprüfung durch den Bundestag (oder besser durch Referenden) unterworfen, dann wäre das in der Tat ein epochales Urteil gewesen. Deutschland ist seit Jahrzehnten ohne Mehrheit im Volk in die EU-Integration und in den Euro getrieben worden. Jetzt einige Integrationsgrenzen zu ziehen, ist so, als würde man nach einem Autoabsturz vom Steilhang kurz vor dem Aufprall die Handbremse anziehen.

Voßkuhle erging sich in der Urteilsbegründung vielfach in volksferner, hochideologischer und internationalistischer Rhetorik: "Souveräne Staatlichkeit steht [nur] für einen befriedeten Raum."; "Der Staat ist kein Selbstzweck."; "Das Grundgesetz will eine europäische Integration."; "Das Europäische Parlament … kann und muss in seiner Zusammensetzung nicht den Anforderungen entsprechen, die sich auf der staatlichen Ebene aus dem gleichen politischen Wahlrecht aller Bürger ergeben. Die Kommission muss als ein supranationales, besonderes Organ ebenfalls nicht umfänglich den Bedingungen einer entweder dem Parlament oder der Mehrheitsentscheidung der Wähler voll verantwortlichen Regierung genügen, weil sie selbst nicht in vergleichbarer Weise dem Wählerwillen verpflichtet ist."

Alles klar? Das letztgenannte Zitat muss man sich auf der Zunge zergehen lassen! Dass die Ernennung der EU-Kommissare und die höchst indirekten Wahlen der EU-Organe in der Praxis mit Demokratie fast nichts mehr zu tun haben, interessiert das BVG nicht. Das Volk, in dessen Namen hier Unrecht gesprochen wurde, würde diese Sprüche den Richtern am liebsten in den Mund zurückschieben - ebenso wie das Urteil. Und die Verfasser des Grundgesetzes (GG) würden sich im Grabe umdrehen.

Deutschland war bis 2009 mit etwas gutem Willen eine Republik, ein Rechtsstaat. Das ist (war) viel mehr als eine Demokratie, die insbesondere die Herrschaft des Volkes verbrieft. Beides wird per 2010 nun endgültig aufgegeben - freiwillig durch die deutschen "Volksvertreter" im Bundestag und im BVG. Kleinere Rechtsstaats-Reste mit noch nationaler Gesetzgebungskompetenz und ebenso die noch gültigen kleinen Reste des GG werden die internationalistischen Lemminge im Bundestag und neue, noch willigere BVG-Richter im Laufe der kommenden Jahre schleifen. Freiheit verliert man scheibchenweise.

Sie glauben das alles nicht? Hier Formulierungen aus dem Urteil und aus der Presse im Kontrast zur Realität:


Das BVG beansprucht eine "Prüfungskompetenz" zur Wahrung des "unantastbaren Kerngehalts der Verfassungsidentität des Grundgesetzes".

Realität: Das GG ist schon seit Jahrzehnten von EU-Recht ausgehöhlt worden, ohne dass das BVG substanziell eingeschritten wäre. Die vom BVG geforderte Änderung des Begleitgesetzes bezieht sich nur auf die künftige Weiterentwicklung der EU-Integration. Diese ist aber mit Lissabon weitgehend abgeschlossen. De facto könnte das Urteil nur noch marginal etwas ändern - und das auch erst bei den restlichen Integrationsschritten hin zum totalen EU-Staat in einigen Jahren.


Das BVG reklamiert die Vertragshoheit und die "oberste Integrationsverantwortung" für sich - und sieht sich hierarchisch über dem EuGH.

Realität: Das widerspricht direkt dem Lissabon-Vertrag, der aber zugleich passieren darf. Keine Chance auf Verwirklichung, denn das würden sofort auch 26 andere Länder fordern und Lissabon wäre damit de facto tot. Das BVG hat nicht einmal einen völkerrechtlichen Vorbehalt für seine Interpretation des Lissabon-Vertrags gemacht! Die EU und der EuGH sind somit weiterhin frei, ihre Interpretation durchzusetzen. Das BVG hat noch nie ein Urteil des EuGH aufgehoben (noch dies je versucht). Und der EuGH hat noch nie einer EU-Richtlinie widersprochen und diese somit aufgehoben.

Die bis heute mangelhafte Existenz-Legitimation des EuGH wird (obwohl expliziter Inhalt der Schachtschneider-Klageschrift) im BVG-Urteil nicht einmal adressiert. EuGH-Entscheidungen hatten in den vergangenen Jahrzehnten immer Vorrang vor nationaler Rechtssprechung. Aktuell ist mit der Vorratsdatenspeicherung wieder eine wichtige EU-Richtlinie auf dem Prüfstand des BVG: Man darf gespannt sein, ob das BVG nach seiner Jahrzehnte-alten "Nullhistorie" einmal den Mut hat, ein klar GG-widriges EU-Gesetz zu kassieren. Dieser Lackmustest des neuen BVG-Anspruchs steht schon im Sommer an...


Das BVG will das Subsidiaritätsprinzip und die nationale Souveränität sichern und definiert einen unantastbaren nationalen "Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse".

Realität: Die Subsidiarität und die nationale Souveränität sind schon lange tot. 84% unserer Gesetze entstehen direkt oder indirekt in Brüssel. Wie groß unser nationaler Raum zur Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse noch ist, hat die angelsächsisch induzierte Finanzkrise mit fatalen Auswirkungen in Europa gezeigt, die ohne die unregulierte Kapitalverkehrsfreiheit (EU-Richtlinie seit 1994) nicht möglich gewesen wäre! Zudem sind die Grenzen der EU-Macht in keiner Weise institutionalisiert kontrollierbar oder gar justiziabel. Wo kein Kläger, da kein Richter.







Einige Medien behaupten, künftig dürften deutsche EU-Vertreter nur noch nach expliziter Autorisierung durch den Deutschen Bundestag für Deutschland abstimmen.

Realität: Selbst wenn ein solches imperatives Mandat tatsächlich so ins neu zu formulierende Begleitgesetz geschrieben würde (Zweifel sind leider erlaubt), dann würde ein deutsches „Nein“ zu einer Richtlinie in aller Regel die anderen 26 Staaten nicht weiter stören. Lissabon bringt in fast allen relevanten Bereichen Mehrheitsentscheidungen und Deutschland kann überstimmt werden.


Das BVG postuliert offiziell weiterhin nicht den EU-Bundesstaat, sondern noch immer die Staatengemeinschaft souveräner Nationalstaaten. Demokratische Legitimation der EU-Entscheidungen kann nach BVG daher nur von den nationalen Parlamenten kommen.

Realität: Diese Legitimation könnte in der Praxis nur dadurch gelebt werden, dass der Gesetzgeber im Begleitgesetz Pauschalermächtigungen der deutschen Organe in Brüssel enge Grenzen setzt. Jede relevante EU-Entscheidung müsste durch den Bundestag oder via Referendum legitimiert werden. Man darf gespannt sein, ob das im September so im Begleitgesetz stehen wird…

Gemäß BVG-Urteil sind nur Völker befähigt, das Recht zu verwirklichen. Ernst zu nehmen wären die BVG-Vorbehalte daher erst, wenn sie Volksabstimmungen über die mit dem Lissabon-Vertrag übertragenen Kompetenzen und über alle künftigen Kompetenzübertragungen verbindlich machen würden. Da es diese aber bereits gegeben hat (F, NL, IRL) und da sie allesamt ablehnend waren, hätte das BVG konsequenterweise zwingend eine substanzielle Neuformulierung des Vertrags und damit eine komplette Neu-Ratifizierung in allen EU-Ländern herbeiführen müssen. Ohne verbindliche Referenden und ohne Änderungen in der Vertragssubstanz des Lissabon-Vertrags bleibt das BVG-Urteil zahnlose Rhetorik und die "neue EU" bürgerfern.


Forderungen an das neue Lissabon-Begleitgesetz

Die Botschaft des Medienspins "BVG stärkt die nationale Souveränität" würde erst dann glaubwürdig, falls der Bundestag in den kommenden Wochen beschließen würde:


Ohne Ablehnung des Hauptvertrags von Lissabon bleiben diese Forderungen für das neu zu formulierende Begleitgesetz unvollständig. Dennoch müssen sie gestellt werden und der Bundestag muss wenigstens diese drei Punkte in strengster BVG-Auslegung in den kommenden Wochen umsetzen.


Widerstand gegen den EU-Staat ist klar mehrheitsfähig

Zudem sollten wir alle fleißig die Höhe der vom BVG festgestellten "Integrationsobergrenze" per Verfassungsbeschwerde testen. Am besten rückwirkend bis 1963. Mehrheiten oder gar Einstimmigkeit bei den Völkern hätte es für all die Integrationsschritte samt Euro-Einführung nie gegeben! Das ist quasi amtlich, seitdem der EU-Binnenmarktkommissar Charly McCreevy am 26. Juni 2009 gegenüber der Irish Times festgestellt hat, dass "bei Referenden der Lissabon-Vertrag in 95% der Mitgliedsstaaten abgelehnt worden wäre". Konsequenzen daraus? Doch nicht bei einem EUlitisten! The show must go on. Egal wie schlecht sie ist.


© Peter Boehringer
www.pbvv.de, Vorstand Deutsche Edelmetall Gesellschaft e.V.


Peter Boehringer ist europapolitisch interessiertes Mitglied einer staatstragenden deutschen Partei. In Sachen EU liegt er nicht voll auf Linie der Parteiführung - wohl aber auf Linie der großen Mehrheit der Bürger. Der Artikel ist erschienen in der Ausgabe 8/2009 des Smart Investor Magazins.