Geht die Globalisierung Bankrott? (Teil 1/2)
15.11.2012 | Presse
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Der Big Bang Die Art und Weise, wie monetäre Expansion zu wirtschaftlicher Globalisierung führt, hat sich in den letzten 200 Jahren so gut wie nicht geändert. Im Abstand von einigen Jahrzehnten führen große Veränderungen in der Einkommensverteilung, des Geldangebots, der Spargewohnheiten oder der Struktur der Finanzmärkte zu bedeutenden Liquiditätsausweitungen in den Finanzzentren der reichen Länder. Diese ursprüngliche Ausweitung kann unterschiedliche Ausprägungen haben. Die Herausbildung von Aktienbanken (Gesellschaften mit beschränkter Haftung, die Währungen emittierten) sorgte beispielsweise in den 1820ern und 1830ern - wie auch später in den 1860er und 1870ern - in England für eine rasche Ausweitung von Geldangebot, Einlagen und Bankenkrediten, welche schnell in spekulatives Investitionsverhalten und internationale Kreditvergaben umschlugen.
Eine andere Form monetären Wachstums wurde in den 1920ern in den USA durch das deutliche Anwachsen der nationalen Goldreserven ausgelöst, oder aber durch großangelegtes Kapitalrecycling, so geschehen mit den enormen Reparationszahlungen der Franzosen nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870, dem Petro-Dollar-Recycling der 1970er oder dem Recycling der gewaltigen Exportüberschüsse Japans in den 1980ern und 1990ern. Monetäre Expansion kann zudem aus einer Überführung wenig liquidier Vermögensanlagen in stärker liquide Vermögensanlagen resultieren. Dies geschah beispielsweise im Rahmen der explosiv ansteigenden, spekulativen Immobilienkreditvergaben in USA während der 1830er oder mit der Schaffung des Marktes für hypothekarische Wertpapiere in den 1980ern.
Anfänglich sorgen solchen Ausweitungen für einen Boom der lokalen Aktienmärkte und zu sinkenden realen Zinssätze. Renditehungrige Anleger investieren dann im großen Stil in neue, nicht-traditionelle Investments, so auch in riskantere Projekte, bei denen neuen Technologien zur Anwendung kommen. Somit entstehen Finanzierungsquellen für neue riskante Projekte - wie Eisenbahnstrecken, Telegraphenleitungen, Webmaschinen, Lichtleitertechnik oder Personal Computer - und das kräftige Geschäftsklima, von dem die Phasen der Liquiditätsvermehrung in der Regel geprägt sind, macht diese Investments profitabel.
Die neuen Technologien steigern wiederum die Produktivität und sorgen für eine drastische Senkung der Transportkosten, wodurch Wirtschaftswachstum beschleunigt und Unternehmensprofite ausgebaut werden. Es entsteht ein sich selbstverstärkender Zyklus. Erfolg erzeugt Erfolg, und die sich schnell ausbreitenden Transport- und Kommunikationstechnologien beginnen sich schon nach kurzer Zeit deutlich auf das allgemeine Sozialverhalten auszuwirken, das sich an diese neuen Technologien anpasst.
Aber nicht nur neue Technologieprojekte ziehen Risikokapital an. Auch in die "peripheren Wirtschaften” der Welt fließen jetzt Finanzmittel, welche aufgrund ihrer geringen Größe auch rasch darauf reagieren. Diese Länder erleben nun Währungsstärke und reales Wirtschaftswachstum, wodurch sich die Richtigkeit der ursprünglichen Investitionsentscheidungen weiter bestätigt. Mit zunehmenden Geldflüssen beginnen auch die lokalen Märkte zu wachsen.
Dieses plötzliche Wachstum bei Anlagevermögen und Bruttoinlandsprodukt führt häufig dazu, dass die politische Führung der betreffenden Entwicklungsländer politische Reformen einleitet - ob nun die Vertreibung eines altmodischen spanischen Monarchen in den 1820er Jahren, die Ausweitung des Eisenbahnnetzes über die Anden in den 1860ern, die Professionalisierung der mexikanischen Bürokratie in den 1890ern, die Deregulierung der Märkte in den 1920ern oder die Privatisierung aufgeblähter Staatsunternehmen in den 1990ern. Kapitalzuflüsse ermöglichen wirtschaftspolitische Reformen, da staatliche Institutionen die benötigen Ressourcen erhalten, um den Widerstand der lokalen Eliten zu überwinden.
Diese Beziehung zwischen Kapital und Reform wird häufig missverstanden: Kapitalzuflüsse sind nicht, wie im Allgemeinen angenommen wird, allein die Folge erfolgreicher Wirtschaftsreformen, Kapitalzuflüsse schaffen erst die Bedingungen, damit Reformen stattfinden können. Sie ermöglichen eine relative problemlose Finanzierung von Haushaltsdefiziten, sie statten Industrielle, die möglicherweise freien Handel ablehnen würden, mit günstigem Kapital aus, sie befördern den Auf- und Ausbau von Infrastruktur und generieren auf diesem Weg so hohe Vermögenswerte, dass die meisten Mitglieder der ökonomischen und politischen Elite, die reformfeindliche Einstellungen hegen könnten, besänftigt werden.
Politische Entscheidungsträger gestalten Reformen in der Regel so, dass diese ausländischen Investoren Anreize geben, weil politische Maßnahmen, die Auslandinvestitionen fördern, in Zeiten hoher Liquidität scheinbar schnell und reichlich belohnt werden. In Wirklichkeit ist es aber genauso wahrscheinlich, dass Kapital auch in jene Länder fließt, die noch keine Reformen durchsetzten konnten. Es ist kein Zufall, dass die berühmtesten "money doctors“ in solchen Phasen mit Abstand am einflussreichsten waren - also westlich gebildete Denker wie beispielsweise der französische Ökonomen Jean-Gustave Courcelle-Seneuil in den 1860ern, der Finanzhistoriker Charles Contant in den 1890ern und Edwin Kemmerer, Ökonom an der Princeton University, in den 1920ern. Ihre modernen Entsprechungen berieten dann später in den 1990ern z.B. Argentinien hinsichtlich nationaler Währungsfragen, sie brachten Russland die "Schocktherapie", überzeugten China von den Vorteilen einer Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation und verbreiteten überall die Ideologie des freien Marktes.
Das Muster ist eindeutig: Globalisierung ist vorrangig ein monetäres Phänomen, bei dem Liquiditätsausweitung Investoren zur Übernahme größerer Risiken veranlasst. Diese erhöhte Risikobereitschaft schlägt sich in der Finanzierung neuer Technologien als auch in Investitionen in weniger entwickelte Märkte nieder. Beides führt schließlich zur "Schrumpfung“ der Welt, da sich Kommunikations- und Transporttechnologien verbessern und Investitionskapital in jeden Teil der Welt fließt. Befördert durch die technologischen Fortschritte weitet sich auch der Außenhandel aus, um diesen Kapitalflüssen Rechnung zu tragen. Globalisierung findet also hauptsächlich deshalb statt, weil Investoren plötzlich risikofreudig werden.