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Dr. Frankenstein warnt vor seinem Monster

17.09.2005  |  Claus Vogt
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Ein Ketzer innerhalb der Notenbank?

Auf eine weitere interessante Veränderung der für die Finanzmärkte und die Realwirtschaft so überaus wichtigen US-Notenbank machte uns eine Analyse von Paul L. Kasriel, Chefökonom der Northern Trust Company, aufmerksam, der wir übrigens auch die Überschrift dieses Abschnitts entnommen haben. Kasriel weist auf folgenden instruktiven Satz im Protokoll des US-Offenmarktausschusses vom 9. August hin: "Another participant mentioned, however, that recent sluggish growth of the monetary aggregates suggested that the stance of policy was not overly accommodative." (Übersetzung: Ein anderer Teilnehmer der Sitzung erwähnte jedoch, dass das seit kurzem träge Geldmengenwachstum nahe lege, dass die geldpolitische Ausrichtung nicht übermäßig expansiv sei.)

Ebenso wie Kasriel sind auch wir von dieser Äußerung regelrecht elektrisiert. Denn die monetären Kerngrößen Geld- und Kreditmengenwachstum spielten in den Verlautbarungen der US-Notenbank seit Jahren keine Rolle mehr. Es war uns schon immer ein Rätsel, wie man auch nur den Anschein einer seriösen Geldpolitik erwecken zu können glaubt, ohne auf Geld- und Kreditmengen abzustellen. Schleicht sich da auf leisen Sohlen und nach jahrelanger Abstinenz, vielleicht aufgrund des baldigen Abgangs Alan Greenspans als Notenbankpräsident, die geldpolitische Vernunft in die ehrwürdigen Hallen der Fed zurück?


Konsequenzen für den Anleger

Was mögen diese teilweise sehr erstaunlichen Verlautbarungen aus den Kreisen der US-Notenbank für uns Anleger bedeuten? Zunächst scheint klar zu sein, dass die Notenbank eine Fortsetzung der US-Immobilienblase und womöglich auch der Echoblase am Aktienmarkt nicht wünscht. Weitere Zinserhöhungen und eine restriktivere Geldpolitik dürften damit vorprogrammiert sein. Damit bleiben die Ampeln an der US-Börse weiterhin eindeutig auf rot und das Risiko einer Rezession, die von den USA ausgehend den Rest der Welt ergreift, nimmt zu. Das geldpolitische Wunschkonzept aller politischer Wirtschaftslenker, das sogenannte "Soft Landing", klappt normalerweise nicht. Der vorsichtige Anleger sollte sich also darauf einstellen, dass auch in diesem Zyklus die üblichen Bremsspuren einer restriktiven Geldpolitik sichtbar werden, also eine Baisse an den Aktienmärkten und eine Rezession.

Erst dann, im Lauf des nächsten Abschwungs also, wird sich eine hier andeutungsweise möglich erscheinende Neuausrichtung der US-Geldpolitik zeigen können. In der Greenspan-Ära wurde jede echte oder eingebildete Krise mit einem weiten Öffnen der Geldhähne beantwortet. Sollte dieses Muster sich auch in Zukunft wiederholen, dann wissen wir, woran wir sind.


US-Arbeitslosigkeit zu niedrig ausgewiesen

Volkswirtschaftliche Statistiken sind bekanntlich kein Selbstzweck, sondern liefern Daten, die als Grundlage ökonomischer und politischer Entscheidungen dienen. Wenn sie kein realistisches Bild der Wirklichkeit wiedergeben, können die auf ihnen basierenden Entscheidungen natürlich nicht korrekt sein. Falsche volkswirtschaftliche Statistiken führen also zu falschen unternehmerischen und politischen Entscheidungen.

Wir haben uns an dieser Stelle bereits mehrfach mit unserer Meinung nach eindeutig falschen US-Statistiken befasst. Beispielsweise haben wir das Märchen vom Haushaltsüberschuss des US-Staats ebenso beschrieben wie das Märchen vom US-Produktivitätswunder; unser ganz besonderes Augenmerk galt bereits mehrfach der systematisch und deutlich zu niedrig ausgewiesenen US-Inflationsrate. Da letztere eine wichtige Größe bei der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts ist, führt sie zu einer klaren Überzeichnung des US-Wirtschaftswachstums.

Jetzt liefert uns ausgerechnet die Federal Reserve Bank of Boston einen weiteren Beleg für die Fragwürdigkeit amerikanischer Wirtschaftsdaten. Im Juli 2005 veröffentlichte die Notenbank eine instruktive Studie mit dem Titel "Additional Slack in the Economy: The Poor Recovery in Labor Force Participation During This Business Cycle". (Übersetzung: Zusätzlicher Schlupf in der Wirtschaft: Die schwache Erholung des Arbeitskräftepotenzials im laufenden Wirtschaftszyklus).

Darin kommt die Autorin Katharine Bradbury, ihres Zeichens "Senior Economist and Policy Advisor" der genannten Institution, zu dem für kritische Beobachter der amerikanischen Wirtschaft durchaus nicht unerwarteten Ergebnis, dass die offiziell ausgewiesene US-Arbeitslosenquote von derzeit 5% zu niedrig angesetzt sei, und zwar um 1 bis 3%-Punkte. Das entspreche 1,6 bis 5,1 Millionen Menschen.

Hat der amerikanische Staat es denn wirklich nötig, ein viel zu rosiges Bild der Wirtschaftslage zu zeichnen? Welchen Interessen dient diese Schönfärberei? Und wohin führt diese Vorgehensweise? Muss ausgerechnet die noch immer bedeutendste Wirtschaftsmacht der Welt in diesem Bereich den Vorgaben ihrer einstigen Gegenspieler aus dem Ostblock folgen? Auch deren Statistiken zeichneten auf dem Weg in den Niedergang unbeeindruckt von der Realität das Bild einer dynamisch wachsenden Wirtschaft.


Nie wieder sparen

Im Juni 2005 fiel die US-Sparrate offiziellen Angaben zufolge auf 0%. Im Juli wurde sie dann mit minus 0,6% ausgewiesen. Das ist der niedrigste Wert seit der monatlichen Erhebung dieser Daten, die im Jahr 1959 begonnen wurde. Lediglich im Oktober 2001 wurde schon einmal eine leicht negative Sparquote verzeichnet. Für die Zeit vor 1959 existieren lediglich Quartalszahlen. Diese zeigten nur während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre mehrere negative Werte. In den vergangenen 5 Jahren stieg die Verschuldung privater Haushalte doppelt so schnell wie die verfügbaren Einkommen.

Sowohl Alan Greenspan als auch der Präsidentenberater und ehemalige Notenbanker Ben Bernanke sprachen im Zusammenhang mit den sehr hohen asiatischen Sparquoten von einer problematischen Entwicklung. Die hohe Verschuldung Amerikas sei nicht das Problem, sondern ein begrüßenswerter Dienst für die Weltwirtschaft. Wir sind gespannt, wie sie die jetzt ausgewiesene Entsparung Amerikas als positive Entwicklung argumentativ verbiegen und als Erfolg ihrer Politik vermarkten werden.

Eine der grundlegenden volkswirtschaftlichen Identitäten besagt, dass die gesamtwirtschaftliche Ersparnis gleich der gesamtwirtschaftlichen Investition ist. Wer nicht spart, kann auch nicht investieren. Und wer nicht investiert, kann selbstverständlich seinen Wohlstand nicht vermehren.

Deshalb halten wir die Entwicklung des amerikanischen Sparverhaltens längerfristig für volkswirtschaftlich sehr bedenklich und sehen darin eine Nebenwirkung der amerikanischen Niedrigzinspolitik der Greenspan-Ära. Niedrige Zinsen führen einerseits ganz direkt zu einer geringeren Sparneigung, da der Anreiz zu sparen nicht vorhanden ist. Andererseits hat die seit vielen Jahren weltweit expansive Geldpolitik Spekulationsblasen entstehen lassen, insbesondere an den US-Aktien- und Immobilienmärkten. Diese wiederum gaukeln den von Preissteigerungen gesegneten Marktteilnehmern zunehmenden Wohlstand vor, der das Sparen scheinbar überflüssig macht - bis die Blase platzt und die Preise wieder fallen.

Es handelt sich bei diesem Prozess ausdrücklich um eine Wohlstandsillusion, die eigentlich einfach durchschaubar sein sollte: Wenn wir uns gegenseitig zu immer höheren Preisen unsere Häuser verkaufen, dann mag es dabei Gewinner und Verlierer geben. Wohlstand entsteht aber ganz offensichtlich nicht. Wohlstand entsteht vielmehr durch den Aufbau eines Kapitalstocks, durch die Ausweitung der Produktionskapazitäten, die wiederum die notwendige Voraussetzung für mehr Konsumgüter und das heißt natürlich mehr Wohlstand in der Zukunft sind. Genau an dieser Stelle schleicht sich regelmäßig ein gewichtiger Fehler in die Argumentation keynesianischer "Am Anfang war Konsum-Anhänger" ein. Sie verwechseln Geld mit Kapital.

In seiner krudesten Form lautet deshalb ein heutzutage leider gängiges Argument: "Zum Investieren brauchen wir keine Ersparnisse, sondern schlicht und einfach Geld." Spätestens in Zeiten einer Hyperinflation werden selbst die härtesten Verfechter dieser These den Fehler ihrer Argumentation erkennen.


Fundamentales

Alles fließt, die Zeiten ändern sich. Insbesondere dank technischer Innovationen unterscheidet sich die Welt von heute recht deutlich von der vor nur 10 Jahren und auf geradezu dramatische Weise von der Welt unserer Großväter. Trotz dieses dynamischen Wandels und der ihn begleitenden zyklischen Auf- und Abschwünge gibt es in der Welt der Finanzen einige überaus stabile Relationen langfristiger Natur, die für die Aktienanlage von großer Bedeutung sind.

Beispielsweise wuchsen die nominalen Unternehmensgewinne im Gleichschritt mit dem Bruttoinlandsprodukt um rund 6% per annum, wobei diese Zahl über beliebig gewählte, aber längerfristige Zeiträume überaus stabil war. Dennoch wird an den Finanzmärkten immer wieder so getan, als könnte das überdurchschnittliche Gewinnwachstum von 20, 30 oder mehr %, das Unternehmen im Anschluss an Rezessionen häufig ausweisen können, als Grundlage einer fundamentalen Unternehmensbewertung dienen. Das ist natürlich Unsinn.

Als Grundlage einer sinnvollen fundamentalen Analyse müssen mehrjährige Durchschnitte verwendet werden, um den Einflüssen des Wirtschaftszyklus zu begegnen. Alternativ dazu kann auch das von John P. Hussman vorgeschlagene und von uns im Januar 2002 besprochene Konzept der höchsten im jeweiligen Wirtschaftszyklus erreichten Unternehmensgewinne und die auf ihnen basierende Kennzahl "Kurs-Maximaler-Gewinn-des-Zyklus-Verhältnis" (KGmaxV) angewendet werden. Diese Kennzahl, die das aktuelle Kursniveau des Aktienmarktes zu dem Gewinnmaximum des laufenden Wirtschaftszyklus ins Verhältnis setzt, beläuft sich bezogen auf den S&P 500 Index gegenwärtig auf rund 20. An den Tiefpunkten großer Baissen der Nachkriegszeit betrug sie im Durchschnitt knapp 9. Am Tief des verheerenden Bärenmarkts des Jahres 1974 betrug sie 7,5; an den Börsentiefs der Jahre 1980 und 1982 jeweils 7 und 1991 immerhin 11,5.

Nun kann man aus dieser Zahl natürlich nicht den Schluss ziehen, dass die US-Aktienmärkte sich halbieren müssten. Allerdings stünde einer Kurshalbierung aus fundamentaler Sicht offensichtlich nichts im Wege. Nein, die Bedeutung dieser Kennzahl ist langfristiger Natur. Sie legt den Schluss nahe, dass Aktienkäufer auf dem aktuellen Niveau längerfristig eine deutlich unterdurchschnittliche Performance erwarten müssen. Wie der Weg zu diesem höchstwahrscheinlich enttäuschenden Ergebnis aussehen wird, bleibt dabei leider offen.


Vom Unsinn im denken über Katastrophen

Da waren sie also wieder, die ökonomischen Quacksalber, die sich für keinen Unsinn zu schade sind. Wie üblich im Anschluss an Katastrophen, verwiesen diese "Experten", von denen wir hier keinen Einzelnen besonders hervorheben möchten, auch im Falle der tragischen Sturmschäden in den USA auf den angeblich die Wirtschaft stimulierenden Effekt des notwendigen Wiederaufbaus der zerstörten Gebiete.

Natürlich werden Aufräumarbeiten ebenso unerlässlich sein wie die Reparatur oder der Neubau der zerstörten Infrastruktur. Das ist die für jedermann sichtbare ökonomische Folge einer Katastrophe. Nicht sichtbar, aber dennoch eigentlich offensichtlich ist die Tatsache, dass jeder Dollar nur einmal ausgegeben werden kann. Wer ein beschädigtes Haus repariert, eine zerstörte Straße ausbessert oder eine unbrauchbar gewordene Fabrik durch einen Neubau ersetzt, der kann die dafür aufgewendeten Mittel nicht mehr für jene Projekte ausgeben, die er andernfalls realisiert hätte. Der Wiederaufbau nach einer Katastrophe sorgt also lediglich für eine Veränderung in der Verwendung der Ausgaben, nicht aber für eine Erhöhung dieser Ausgaben.

Wenn beispielsweise die Versicherung einen Schadensfall begleicht, dann sinkt ihr Gewinn entsprechend, und das Unternehmen kann weniger Geld an die Aktionäre ausschütten oder es muss seine Investitionen zurückfahren. Wer den zahlreichen Spendenaufrufen folgt, wird das verschenkte Geld eben nicht mehr selbst verwenden können. Er stellt es stattdessen für den Wiederaufbau und die Linderung der größten Not besonders hart Getroffener zur Verfügung. Auch staatliche Zuwendungen unterliegen dieser prinzipiellen Restriktion. Der Staat muss entweder an anderer Stelle sparen oder den Steuerzahler entsprechend mehr belasten. Egal, woher das Geld für den Wiederaufbau kommt, es wird an irgendeiner, nicht leicht sichtbaren Stelle fehlen.

Die Zerstörungen sind eine ganz reale Vernichtung von Wohlstand. Wäre es anders, dann könnten wir durch die regelmäßige Zerstörung unsere Städte und Industrieanlagen für eine Vermehrung des gesellschaftlichen Wohlstands sorgen. Diese Vorstellung ist so offensichtlich absurd, dass selbst die zu fast jedem Unsinn geneigten und von Allmachtsphantasien beherrschten staatlichen "Wirtschaftslenker" ihn bisher zumindest nicht zur Ankurbelung der Wirtschaft vorgeschlagen haben - obwohl John Maynard Keynes ihr mit seinen wirtschaftspolitischen Vorschlägen schon recht nahe gekommen ist.


© Claus Vogt
Leiter Research der Berliner Effektenbank



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