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Psychogramm einer Spekulationsblase

16.10.2003  |  Hans Jörg Müllenmeister
Psychogramm einer SpekulationsblaseDer philosophische Leitgedanke Decartes "Cogito, ergo sum - Ich denke, also bin ich" verkommt im Rausch der Spekulation zu "Ich spekuliere, also bin ich". Das bewußte Ausspähen eines Risikos nach gewinnträchtiger Gelegenheit besteht seit Anbeginn der Menschheit, ja es gehört geradezu zur Strategie der Überlebenskunst.


Historische Spekulationsblasen

An herausragenden spekulativen "Kapitalunfällen" in der Menschheitsgeschichte mangelt es nicht. Erinnert sei an die erste überlieferte Hype,
  • die Tulpenzwiebel-Hausse von 1634 - 1637 im 17. Jahrhundert
  • die South Sea-Bubble im 18. Jahrhundert; der Betrug platzte 1720
  • den Aktien-Crash 1929 zu Beginn der Weltwirtschaftskrise
  • die Edelmetall-Hausse mit ihrem jähem Ende 1980
  • die Japanischen Aktienbörse mit ihrem Zusammenbruch 1990
  • den Neuen Markt mit dem Platzen der Spekulationsblase 2000


  • All diese Crashes, die übrigens meist zur Jahrzehntwende auftreten, sind immer begleitet vom gleichen psychologische Verhaltensmuster: Jubel, Hysterie, Gier; am Gipfelpunkt der Kapitalblase Panik, Hoffnung und beim Absturz nackte Angst. Erst nach dem Platzen der Blase gewinnt der Spekulant seine realistische Einstellung wieder.


    Pferdefuß Zinseszinseffekt

    Was steckt hinter dem "Blasen-Psychogramm"? Warum vergehen Spekulationsblasen immer nach dem gleichen Zerfallsmuster, so als ob der Mensch kein lernfähiges Gebilde sei. Offensichtlich übersieht der Mensch im Dunstkreis seiner Selbsttäuschung die heraufziehende Gefahr. Zwischenzeitlich ist die trügerische Hoffnung die Überlebenskünstlerin seiner Gefühlswelt.

    Dem unheimlichen Blasen-Phänomen steht der Spekulant machtlos vis à vis. Als linear denkendes Wesen will er seine Zukunft bezwingen. Seine Erfahrung aus der Vergangenheit und Gegenwart bietet ihm dazu vermeintlich genügend Orientierungspunkte. In unserem Dasein sind wir aber alle in Raum und Zeit begrenzt. Dieses Bewußtsein führt zu sehnsüchtigen Spekulationen. Für das Verlangen, sich Dinge der Zukunft bereits jetzt leisten zu können, zahlen wir einen hohen Tribut: den Zins mit Zinseszins. Bei einem unendlich langen Leben würde uns die Geißel "Zinseszins" erspart bleiben. Diese Begrenztheit ist auch die Crux aller verschuldeten Staaten, die über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse leben. Wir unterschätzen den Zinseszins-Charakter als Wachstumsmonster, weil wir für die ins Gigantische laufende Funktion keinen Sensus entwickelt haben - siehe die weltweit eskalierenden Schuldenberge. Es menschelt überall!


    Zwei Beispiele veranschaulichen eine extreme (exponentielle) Steigerung

    Welch unglaubliche Überraschung! Wie dick würde ein Zehntel Millimeter starkes Blatt Papier werden, wenn man es gedanklich 42 mal faltet? Das Resultat ist einfach verblüffend: Nach 42 Faltungen würde das Papier die Strecke Mond - Erde leicht überbrücken. Die Papierdicke wächst also extrem rasch, man sagt exponentiell zur Basis 2. In der Natur spielen sich Wachstumsvorgänge ebenfalls exponentiell ab, etwa die ungehemmte Vermehrung von Aids-Viren, allerdings zur Basis e = 2,7...

    Auch das umgekehrte Wachstum, der Zerfall, folgt dem gleichen Naturgesetz, etwa der radioaktive Zerfall einer Substanz. Obwohl die einzelnen Materieteilchen spontan und unvorhersehbar zerfallen, läßt sich die Zeit (Halbwertszeit), in der die Substanz die Hälfte ihrer Masse durch Strahlung verliert, exakt berechnen: eine große Menge von einzelnen Ungewißheiten wird statistisch zur Gewißheit.


    Der Charakter einer Bubble

    Eben aus diesen beiden Kurvenästen setzt sich eine Spekulationsblase im Prinzip zusammen: ein Aufblähen - wie eine Papierfaltung - mit anschließendem Platzen - wie ein radioaktiver Zerfall. Das gesamte Chartbild ist vergleichbar mit einem Kondensators, den man auflädt und über einen Widerstand entlädt. Analog dazu entspricht die Fläche unter der ansteigenden Kurve der steigenden Gier der Spekulanten und die absteigende Kurve dem nachfolgenden Katzenjammer der enttäuschten Anleger. Die zittrige komplette Blase läßt sich durch eine geschlossene Glockenkurve (Gaußsches Fehlerintegral) einhüllen: das ist eine mathematische Funktion, die in der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine große Rolle spielt. Wie gesagt: Die Blase repräsentiert viele einzelne Kauf- und Verkaufsentscheidungen (siehe vereinfachter Blasen-Chart).


    Drei markante Phasen der Spekulationswelle

    Das Unheimliche an dem Exponential-Charakter einer Kapitalblase ist die Tatsache, dass nach einer "Initialzündung" - das wäre das Doppeltief - die Kurve zunächst unverdächtig leicht ansteigt. Es folgt ein kurviger Abschnitt aus der sich die "Diritissima" spontan entwickelt: die Raffgier nimmt zu! Ein fast senkrechter Anstieg führt ins Finale. Diese Phase dauert nur ein Bruchteil, etwa einem Zehntel der vorangegangenen Phasen. Der Spekulationswert kann in dieser Zeit in Bocksprüngen um mehr als 50% zulegen. Nach dem Gipfelpunkt fällt die Kurve stark ab: die Blase platzt! Nach etwa 2,5 Jahren kommt es durch aufkeimende Hoffnung in Erinnerung an das Hoch zu einer trügerischen Teilerholung. Das wiedergewonnene Kurspotential, ausgelöst durch einen "Hoffnungsimpuls", wird später wieder abgegeben. Die Kurve schleppt sich dann über mehr als ein Jahrzehnt bis in die Nähe ihres ursprünglichen Anfangswertes (Doppeltief). Beispiel: Verlauf des Nikkei-Index.


    So vergehen Blasen

    Impulsartige Spekulatioswellen zeigen keine typische Erholung nach 2,5 Jahren, da sie sich über einen kurzen Zeitraum entwickelten und austobten; so die Aktienhype der South Sea-Company oder ein eklatantes Beispiel aus der Neuzeit: die des kanadischen Goldexplores Bre-X-Minerals mit 4.400%-Anstieg in nur einem Jahr (1995 Anstieg von 5 auf 221 Ca-$; über Nacht Absturz auf 25 Ca-$). Diese Charts verliefen entweder symmetrisch zum Höhepunkt oder waren anstiegslastig. Um es mit dem Kondensatormodell zu vergleichen: Die aufgestaute "Kaufenergie" entspricht der Fläche unter der ansteigenden Kurve, die abgegebene "Verkaufsenergie" der Fläche unter der absteigenden Kurve. Kapitalblasen, die über ein Jahrzehnt und mehr entstehen und schließlich "ausheilen" (Marktbereinigung), zeigen nach dem besagten Hoffnungsimpuls ein typisches Buckelpistenmuster mit abnehmender Amplitude (sukzessiver Werteverfall).


    Eigenheiten einer Spekulationsblase

    Das Psychogramm einer Spekulationsblase kann man nicht durch den puren Zufall erklären. Dass die Chartmuster großer Kapitalblasen sehr ähnlich über der Zeit ausfallen ist frappierend, denn diese "Kapitalunfälle" liegen Jahrhunderte auseinander und sie hatten keine "Erinnerung" aneinander. Zudem fanden sie in unterschiedlichen Kapitalsegmenten statt. Man fragt sich: Hat sich der spekulative Mensch seit dem Mittelalter in seinem Anlageverhalten nicht geändert und damit auch das verursachte Blasenbild? Das einzelne Individuum gewiß, aber denken wir an die statistische Gewißheit einer Summe von Teilchen. Offensichtlich folgt die Lemmingherde der Anleger einer eigenen archaischen Gesetzmäßigkeit. Diese Archetypen sind im Stammhirn verankert. Das Kaleidoskop der Emotionen wirkt wie ein ehernes Naturgesetz. Es durchläuft eine Kette eingeprägter Urgefühle, angefangen von der Euphorie über die Gier bis hin zur Panik. Natürlich braucht eine Megaspekulation gewisse hinreichende Bedingungen, damit sie sich überhaupt entzünden kann. Dazu gehört auch, daß eine erneute Spekulationsblase nie im selben Segment entstehen kann; sie sucht sich zunächst ein anders "Ventil". Offenbar flüchtet das unruhige Kapital in ein anderes erfolgversprechendes Feld. Blasen in einem brodelnder Kratersee tauchen ja auch spontan immer an einer anderen Stelle auf.


    Wie bändigt man exponentielle Wachstumsgrößen?

    Das heute fällig werdende verzinste Kapital (Geld) aus einem fiktiv angelegten Cent zu Christus Zeiten würde nicht nur die US-Notenbankpresse völlig überfordern, sondern sämtliche Gelddruckmaschinen der ganzen Welt. Mit diesem dreiprozentig verzinsten Cent - eine galaktische Kapitalansammlung in Quadrillio-nenhöhe - ließen sich bequem sämtliche Weltschulden begleichen.

    Die Menschheit mußte einen gewissen Schutzmechanismus entwickeln, um sich selbst vor dem Ausufern der Wachstumsgrößen zu bewahren. Die Natur dämmt Überpopulation einer Spezies dadurch ein, daß vermehrt Freßfeinde auftreten. Gefühlskalt deklarierte Mephisto in Faust: "Denn alles was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht". Beim Menschen gelingt der Befreiungsschlag durch rigoroses Zurückstellen auf die Anfangsbedingung "Null", etwa durch Jubeljahre bei den Juden (Schuldenerlaß), durch Inflation mit nachgeschalteter Währungsreform und schließlich durch das Platzen von Blasen am Kapitalmarkt. Gerade dieses Jahrzehnt ist prädestiniert für einen Blasenexitus bei Aktien, Anleihen und Immobilien, aber auch für Blasen-Neuschöpfungen am Rohstoffmarkt.


    Das Blasen-Jahrzehnt

    Es gibt Mutmaßungen, dass sich in diesem Jahrzehnt eine noch nie dagewesene Edelmetallhausse ereignen könnte. Zeitlich exakt den Höhepunkt im voraus anzugeben, ist nicht möglich. Das wäre Spekulation. Eine zeitliche Fortführung des bisherigen Verlaufs läßt Großartiges erwarten. Schließlich ist es eine Eigenheit einer Megahausse, dass sie ihren historischen Höhepunkt aus ihrer weit zurückliegenden Bubble in den Schatten stellt. Mathematisch sind unendlich viele Wertepaare (Zeitpunkt, Maximalwert) denkbar. Die Spekulation bleibt ein Menetekel der Menschheit; sie ist durch ihre innewohnende chaotische Verrücktheit unberechenbar.


    Wie sagt Mephisto in Faust?

    Ein Kerl der spekuliert ist wie ein Tier auf dürrer Heide,
    Von einem bösen Geist herumgeführt
    Und rings herum liegt schöne, grüne Weide.



    © Hans Jörg Müllenmeister



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