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Mittelstand und Sozialgesellschaft

18.02.2003  |  Prof. Dr. Eberhard Hamer
Als ich kürzlich einen südamerikanischen Besucher zu einer Autofahrt einlud und ihn aufforderte, sich anzugurten, fragte er mich ganz überrascht, warum man sich in Deutschland selbst fesseln müsse, wenn man sich in ein Auto setze. Ich habe ihm vergeblich erklärt, daß dies eine Vorschrift unserer Regierung sei, veranlaßt von Sozialpolitikern und Versicherungen, um die Zahl der Verletzten und die Kosten der Versicherungen dadurch zu reduzieren (wenn auch dadurch die Zahl der Toten steigen mag). Der Besucher hakte nach, daß also nicht andere Verkehrsteilnehmer von dieser angeblichen Fürsorge betroffen würden, sondern nur die Insassen selbst. "Aber das ist doch eigentlich eigene Entscheidung und eigene Freiheit?" meinte er. Es war ihm schwer klarzumachen, daß unsere Sozialpolitiker und Sozialfunktionäre besser wissen dürfen, was gut für uns ist, als wir selbst.

Das Beispiel mag streitig sein, verdeutlicht aber unsere Situation. Nach der Theorie sollten wir eine freie, selbstverantwortliche Gesellschaft sein. Tatsächlich aber ist die Freiheit jedes einzelnen von uns in den vergangenen 40 Jahren immer stärker beschränkt worden, hat sich ein immer dichteres Netzgeflecht von Gesetzen und Verordnungen in einem Volumen von 85.000 Seiten Papier um uns geschlungen, sind aus angeblicher Fürsorge immer mehr Handlungen, Verhalten und Schritte nicht nur außerhalb unseres Hauses und Betriebes, sondern auch innerhalb vorgeschrieben, werden wir in immer größerem Umfang von den öffentlichen Funktionären kontrolliert, nehmen sie uns für ihre Zwecke mehr als die Hälfte unsere Leistung ab (55% BSP Staatsanteil) und haben inzwischen vielfältigste Betreuungsorganisatoren und Betreuungsfunktionäre ein immer dichteres Spinnennetz von Fürsorge, Betreuung, Bevormundung und Einfluß um uns gesponnen, so daß sie damit Abhängigkeit statt Freiheit, Fremdverantwortung statt Eigenverantwortung und Macht über uns statt Eigenständigkeit errungen haben. Unsere gesellschaftliche Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung ist heute nicht so sehr von außen als von innen bedroht, von Millionen öffentlicher, halböffentlicher und privat-institutioneller Sozialfunktionäre und Berufsbetreuer.

Hatten wir noch in den sechziger Jahren 40% mehr Unternehmer als öffentliche Diener, ist dies heute umgekehrt. Inzwischen ist das Funktionskorpus der öffentlichen Sozial- und Berufsbetreuer so zahlreich geworden, daß auf sieben produktive Erwerbstätige in unserem Volk bereits ein Berufsbetreuer kommt, welcher von der wirtschaftlichen, gesundheitlichen, sozialen, verwaltungsmäßigen, kulturellen oder politischen Betreuung dieser Erwerbstätigen lebt und vor allem Einfluß und Macht auf sie ausüben will.

Wer sich betreuen läßt, gibt innere Freiheit, innere Initiative, Verantwortung und Entscheidungsfreiheit damit ab und unterwirft sich zu einem Teil dem Willen und der Macht seines Betreuers. Die Kader der wirtschaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Macht leben heute wie früher nicht mehr von eigener Arbeit, sondern von der Betreuung anderer. Für sie ist also der Einfluß und die Macht aus der Betreuung ein notwendiges Instrument zur Errichtung der von ihnen angestrebten Feudalstellung.

Für die Masse der Arbeiterschaft erscheinen solche Betreuungen und Sozialleistungen als soziale Wohltat, deren Hinterlist der Macht sie nicht sehen. Da sie auch nicht wissen. daß sie die Kosten dieser angeblichen Wohltaten letztlich selbst zu bezahlen haben, sind sie den Sozialfunktionären für ihre Sozialleistungen auch noch dankbar und gefügig und sind bei Wahlen bereit, für jede Bestechung mit neuen Sozialleistungen diejenigen Funktionärscliquen zu wählen, welche ihnen am meisten versprochen und gegeben haben. Statt freie Bürger haben wir längst Sozialuntertanen.

Aber nicht nur die Sozialfunktionäre haben über den Weg der Bevormundung durch Sozialleistungen Macht über die eigentlich selbstverantwortlichen und freien Bürger errungen; auch die Großwirtschaft hat über ihre Funktionärscliquen und Berufslobbyisten und über die von ihnen beherrschten Wirtschaftsverbände eine beherrschende gesellschaftliche Macht errungen. Wo auch nur ein oder zwei Großkonzerne Mitglied eines Verbandes sind, fordern sie das Präsidentenamt und üben über Geschäftsführung und Verband nach ihrem Nutzen Macht über die Masse der mittelständischen Mitglieder aus. Und wenn es darum geht, gesellschaftliche Vorteile zu erreichen, geht es nicht um den Nutzen der Masse der mittelständischen Verbandsmitglieder, sondern um den Nutzen der herrschenden Großfirmen, welche sich Verbandsherrschaft, die Macht in den Verbänden und dadurch auch 95% aller öffentlichen Subventionen gesichert haben.

Das gemeinsame Interesse aller Sozial- und Kapitalfunktionäre liegt in der Ausübung gesellschaftlicher Macht. Sie haben damit auch die Kulturschickeria eingekauft, um ihrer gesellschaftlichen Machtausübung, Betreuung und Manipulation der Geister, der Bildung, der Wissenschaft und der Kultur zu dienen.

Das Herrschaftsmittel für die Macht der Funktionärskaste ist die Ausgabe öffentlicher Gelder. Darum ist die gesamte Funktionärskaste an einer immer höheren Besteuerung der Bürger interessiert, nicht nur um sich selbst daraus Subventionen und Sozialleistungen zuweisen zu lassen, sondern um auch die bürokratische Herrschaftsmacht damit auszubauen und zu festigen.

Inzwischen bekommen die großen Kapitalgesellschaften in Deutschland mehr Subventionen, als sie überhaupt Steuern zahlen. Ihr Anteil der Körperschaftsteuer ist auf 2,6% der Gesamtsteuern zurückgegangen. Aber auch die Arbeiterschaft bekommt mehr Sozialleistungen, als sie selbst an Steuern und Sozialabgaben aufbringt. Zahler nach oben wie nach unten ist inzwischen der ausgebeutete Mittelstand, der zwar keine Macht hat, aber die Kosten und die Herrschaft der Funktionäre und ihrer jeweiligen Klientel zu bezahlen hat.

Die Herrschaft der Funktionäre geht folgerichtig davon aus, daß die großen Kapitalkonzerne nicht Selbstverantwortung, nicht Freiheit und nicht Gleichheit aller gebrauchen können, sondern eigene gesellschaftliche Macht, Vorrechte und Herrschaft suchen. Und ebenso wollen die Funktionäre des Proletariats nicht Chancengleichheit. Selbstverantwortung und Selbstbestimmung, sondern eigene Macht und Gehorsam von Sozialuntertanen gegenüber dieser Funktionärsmacht. Beide Randgruppen wollen aus solcher Funktionärsmacht leben. Beide haben Vorteile von ihr und beide tragen den Fetisch mit, unter welchem die Funktionärscliquen diese große Betreuungs- und Umverteilungsherrschaft errichten konnten: den Fetisch "Sozial". Im Namen dieses ursprünglich die Hilfe für Bedürftige meinenden Solidaritätsbegriffs wurde die größte öffentliche Umverteilung mit Begünstigung von drei Vierteln unserer Haushalte, aller Konzerne und der Ausplünderung des Mittelstandes für diese Umverteilung betrieben. Und unter diesem Fetisch wurde ein so dichtes und freiheitsfeindliches Regulierungsnetz um jeden einzelnen Bürger geschlungen, daß seine gesellschaftliche Freiheit längst zur sozialpolitischen Manipulation geworden ist.

Weil dies unter dem Fetisch "sozial" geschah, trauten sich die betroffenen Bürger nicht zu widersprechen und konnten die Funktionäre die derzeitige Betreuungsherrschaft gegen die Freiheiten der Einzelbürger und entgegen unserem individualistischen, dezentralen Gesellschaftssystem errichten.

Gerade dieser Rechtsschein der Betreuungsherrschaft durch den Sozialbegriff macht es auch so schwierig, die an sich unsoziale, eigensüchtige Ausgestaltung der Betreuungsherrschaft anzugreifen. Wer sich gegen die "sozialen Errungenschaften" der Betreuungstatbestände wehrt, gerät sofort in die Gefahr, damit als unsozial gebrandmarkt und gesellschaftlich geächtet zu werden. "Abbau des Sozialstaats" schreien die Kader der Betreuungsfunktionäre, wenn die Bürger das Betreuungssystem in Frage stellen und wieder für sich selbst sorgen, selbst entscheiden, Eigenverantwortung tragen oder ihre persönliche Freiheit behaupten wollen.

Dabei kann der mit "Bürgertum" etwa gleichzusetzende gesellschaftliche Mittelstand ohne seine individuellen Freiheiten gar nicht leben:

  • Wird die Selbstverantwortung der Unternehmer immer mehr beschnitten und zur Hörigkeit gegenüber den Funktionärskadern umfunktioniert, dann wird ein eigentlich frei entscheidender und risikoübernehmender Unternehmer zum abhängigen Manager, zum Ausführungsorgan der öffentlichen Vorschriften. Die Selbständigkeit kann nur mit Entscheidungsfreiheit erhalten werden. Fehlt die Entscheidungsfreiheit, geht damit auch die Selbständigkeit zugrunde.

  • Die individuelle Freiheit kann auch durch Freizeitraub vernichtet werden: So müssen nur unsere Selbständigen als einzige Gruppe der Bevölkerung jährlich mehr als 1.000 Stunden kostenlose öffentliche Bürokratiearbeiten zuleisten, z.B. Statistiken ausfüllen, Meldungen machen, Ausrechnungen für Mitarbeiter und Behörden liefern, steuerliche Einzelvorschriften erfüllen, Umweltsonderpflichten übernehmen, Sonderprüfungen der verschiedenen Bürokratien bedienen und bis zu 187 unterschiedliche regelmäßige Pflichtarbeiten für 42 verschiedene Behörden liefern. Während also andere Menschen nach der Arbeit Freizeit haben, muß der Selbständige nicht nur in seinem Betrieb länger arbeiten als andere, sondern auch noch darüber hinaus seine Freizeit für unproduktive Zwangsarbeiten zugunsten der Betreuungsfunktionäre opfern. Wer sich also selbständig macht, weiß nicht, ob er dabei mehr verdient, weiß aber, daß er vom ersten Tage an 1.000 Stunden Mehrarbeit für die öffentliche Bürokratie zu leisten hat. Wer also die größte Freiheit sucht, wird von den Betreuungsbürokraten am meisten zweckentfremdet und für Zwangsarbeiten mißbraucht.

  • Die Eigeninitiative wird den Schülern schon in der Schule als "unsolidarisch" abgewöhnt. Im niedersächsischen Schulgesetz ist vorgeschrieben, daß nur schwache Schüler gefördert werden dürfen, nicht aber begabte. Statt zu Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Selbständigkeit werden die Kinder deshalb schon in der Schule zu angeblich "sozialem Verhalten" im Sinne von Nivellierung angehalten. Der Begriff "Elite" kennzeichnet diesen Widerspruch: Während die "political correctness" diesen Begriff und seine Idee zu verbannen sucht, kann dennoch keine mittelständische Führungspersönlichkeit ohne die Eliteeigenschaften wie Selbstbewußtsein, Verantwortungsbereitschaft, Risikobereitschaft, Führungsfähigkeit, Charakterstärke oder Leistungsbereitschaft existieren. Wer also Elite bekämpft, bekämpft damit die individuellen Existenzvoraussetzungen unseres bürgerlichen Mittelstandes.

  • In gleicherweise haben unsere Sozialfunktionäre die bürgerliche Keimzelle der Familie zerstört: Nicht die Leistung der Mütter, sondern die der Fabrikarbeiterin wird sozial anerkannt, wird mit Rentenansprüchen belohnt und wird als Emanzipationsziel gepriesen. Das Aufziehen der Kinder wird zur Privatsache der Eltern erklärt, die Kosten und Opfer der Kindererziehung haben die Eltern alleine zu tragen. Der spätere Nutzen der Kinder in Form der Sozialbeiträge kommt aber nicht den Müttern zu, sondern vor allem denjenigen zugute, welche sich der Kindererziehung nicht gewidmet haben, die also ohne Sozialverantwortung nur ihrer Berufstätigkeit nachgingen. Die Konsequenz war vorauszusehen: Ein Drittel unserer Haushalte sind bereits Single - Haushalte ohne Kinder. Ein weiteres Drittel Dinkie-Haushalte (double income no kids). Nur 30 % unserer Haushalte sind noch Komplettfamilien, darunter nur noch 6 % mit mehr als 2 Kindern. Jahrzehntelang haben die Sozialfunktionäre der Bevölkerung vorgegaukelt, "daß nicht die eigenen Kinder Sicherung für das Alter seien (wie Jahrtausende zuvor), sondern daß die Sozialfunktionäre das Alter um so besser sichern würden, je weniger die Menschen sich mit eigenen Kindern die Arbeitszeit vermindern. Nicht Selbstverantwortung und nicht Selbstvorsorge. sondern Funktionärsverantwortung und Funktionärsfürsorge waren die Losung der großen Parteien und unserer Gesellschaft. Die Konsequenz waren fehlende Kinder und daraus fehlende Zahler für künftige Renten und für die ständig anwachsenden öffentlichen Schulden.

  • Die Beherrschung und Gängelung der Bürger setzt sich im geistigen Leben fort:
    Inzwischen entscheidet die "political correctness", was wir zu denken, was wir zu sagen haben und was wir über die Propagandainstrumente der öffentlichen Medien als "herrschende Meinung" täglich vorgesetzt bekommen. Dies gilt nicht nur für die Anbetung des Götzen "Sozial" auf allen Kanälen, sondern auch bis zu Denkverboten in der Geschichtsforschung und der Tabuisierung von Bereichen wie Nation, Ausländerkriminalität oder ähnlicher Themen in Wissenschaft, Publizistik und Politik.

  • Haben einst die 68er - Revolten für mehr individuelle Freiheit gekämpft, so sind die Spät-68er heute viel freiheitsfeindlicher als die von ihnen damals kritisierte ältere Generation. Wer sich ihrer Einheitsmeinung widersetzt, wird ausgegrenzt, wird diffamiert, wird mit der Keule der "political correctness" geschlagen. Deshalb werden im wesentlichen auch nur Randthemen öffentlich diskutiert, die Wertediskussion um Freiheit, Selbstverantwortung, Eigeninitiative, Leistung und Elite dagegen unterdrückt.


  • Der aktive, eigeninitiative, leistungs- und risikobereite und vorwärts drängende Unternehmertyp leidet unter einer solchen Entmündigungs- und Betreuungsgesellschaft mehr als der mitlaufende, keine Eigeninitiative entfaltende und nur Sicherheit suchende Rentnertyp.

    Je mehr sich deshalb der Muff sozialistischer Nivellierung über unser Volk ausgebreitet hat, desto geringer wurden nicht nur die gesellschaftliche Anerkennung, sondern auch die Selbstverwirklichungsmöglichkeiten unserer geistigen, wirtschaftlichen und kulturellen Leistungselite. Hierin mag es auch begründet sein, daß die größte wirtschaftliche Blütezeit unseres Volkes in den letzten 40 Jahren keinerlei entsprechende kulturelle Aufbruchphase oder Spitzenleistungen hervorgebracht hat, denn solche Spitzenleistungen kommen immer aus der Individualität, aus der Selbstverantwortung und Eigeninitiative, die vor allen anderen Gruppen den bürgerlichen Mittelstand auszeichnet. Wird aber für diesen bürgerlichen Mittelstand die individuelle Leistungsgesellschaft durch eine funktionärsbestimmte Sozialleistungsgesellschaft ersetzt, kann er seine individuellen Leistungen nicht mehr bringen, fühlt sich unfrei, gegängelt und auch zu seinen kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Leistungen nicht mehr in der Lage.

    Frustration beherrscht deshalb den bürgerlichen Mittelstand. Die Menschen spüren, daß inzwischen immer weniger eigene Leistung gewünscht wird und über den eigenen Lebensstandard entscheidet, sondern die Umverteilungs- und Betreuungsentscheidungen der Funktionärskaste. Wer sich hemmungslos betreuen und alimentieren läßt, kann davon heute teilweise besser und jedenfalls bequemer leben als von eigener Leistung. Unsere eigentlich freie, individuelle Gesellschaft hat sich schleichend immer mehr zu einer gängelnden Funktionärshen-schaft entwickelt. Der eigentlich selbstverantwortliche Bürger ist zumindest gesellschaftlich längst zum beherrschten Untertan geworden. Die Randgruppen können damit leben, der Mittelstand nicht. Deshalb herrscht auch gerade im Mittelstand mehr Frust als in den Randgruppen über die derzeitige gesellschaftliche Situation und über den Verlust der Grundwerte, ohne welche eine bürgerliche Gesellschaft auf Dauer nicht existieren kann.


    © Prof. Dr. Eberhard Hamer (1999)

    Quelle: Sonderausgabe III/1999 der "VERTRAULICHEN MITTEILUNGEN, einem Informationsbrief für Politik, Wirtschaft und Geldanlage. Der Brief wurde 1951 von Artur Missbach gegründet und erscheint allwöchentlich.



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