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Wie nah am Abgrund steht das globale Finanzsystem?

26.05.2015  |  Ernst Wolff
"The big one" ist der Begriff für das ganz große Erdbeben, das seit über einhundert Jahren in Kalifornien erwartet wird. Als "the big one" könnte man auch den bevorstehenden und mittlerweile unausweichlichen Crash des Weltfinanzsystems bezeichnen.

Beide Ereignisse haben eines gemeinsam: Man weiß, dass sie eintreten werden, kann den Zeitpunkt des Eintritts aber nicht genau vorhersagen. Neben diesen Parallelen gibt es aber auch einen wesentlichen Unterschied:

Während die Verschiebung tektonischer Platten nur von Erdbebenforschern verstanden wird, lässt sich das Finanzsystem zumindest in groben Zügen auch ohne Volkswirtschaftsstudium begreifen. Versuchen wir also, die derzeitige Situation geschichtlich einzuordnen und herauszufinden, an welchem Punkt der Entwicklung wir inzwischen angekommen sind.


Die Grundzüge unseres Finanzsystems

Unser gegenwärtiges Finanzsystem geht auf die Konferenz von Bretton Woods im Jahr 1944 zurück. Sie machte den an Gold gebundenen US-Dollar zur weltweiten Leitwährung und verschaffte den USA als stärkster Siegermacht Zugang zu allen Märkten der westlichen Welt. 1971 zwang die ausufernde Zunahme der Dollarmenge die US-Regierung, die Goldbindung des Dollars zu lösen.

Eigentlich wäre seine Vorherrschaft damit beendet gewesen, doch die US-Regierung verhinderte das durch einen geschickten Schachzug: Mitte der Siebziger Jahre schloss sie ein Abkommen mit Saudi-Arabien, das die Abwicklung des gesamten globalen Ölhandels in US-Dollar festlegte. Der Deal machte die US-Währung als „Petro-Dollar“ zur international wichtigsten Reservewährung und garantierte damit die Fortsetzung ihrer weltweiten Dominanz.

Die riesigen Summen, die mit Öl - der meistgehandelten Ware der Welt - verdient wurden, landeten vor allem bei westlichen Banken und stärkten die Vormachtstellung der Wall Street und der City of London. Beide unterstützten zu Anfang der Achtziger Jahre die Wahl Ronald Reagans zum US-Präsidenten und Margaret Thatchers zur britischen Premierministerin. Reagan und Thatcher zeigten sich erkenntlich, indem sie ihre Amtszeiten zu einer Generaloffensive des Neoliberalismus nutzten - einer Politik, die sich in erster Linie an den Interessen des internationalen Finanzkapitals orientiert.

Landesweite Arbeitskämpfe wie der Fluglotsenstreik in den USA und der Bergarbeiterstreik in Großbritannien wurden niedergeschlagen, der Einfluss der Gewerkschaften zurückgedrängt. Mehrere Millionen Arbeitsplätze wurden abgebaut und im Zuge der Globalisierung in Niedriglohnländer verlegt.

Während der Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung zu stagnieren begann, wurden den Wohlhabenden und ihren Unternehmen Steuererleichterungen und Vergünstigungen aller Art gewährt. Die fortschreitende Deregulierung des Bankenwesens führte dazu, dass die ersten Hedgefonds (Vermögensverwaltungen für Superreiche, die nicht den Einschränkungen des Bankwesens unterliegen) aus dem Boden schossen und der Finanzsektor innerhalb der Gesamtwirtschaft eine immer größere Rolle einnahm.

Der Handel mit Derivaten (von der Realwirtschaft abgekoppelte Finanzprodukte, meist Wetten auf steigende oder fallende Kurse) wurde 1994 um die von der JPMorgan-Bankerin Blythe Masters erfundenen Kreditausfallversicherungen ergänzt. Das Volumen dieser vom US-Großinvestor Warren Buffett als "finanzielle Massenvernichtungswaffen" bezeichneten Derivate explodierte förmlich und bestätigte nur vier Jahre seine Gefährlichkeit für das Weltfinanzsystem.


Der erste Schock

1998 bracht der Hedgefonds Long Term Capital Management (LTCM) im Gefolge der Währungskrise in Russland zusammen. Sein Fall machte die Folgen der Deregulierung und des hemmungslosen Einsatzes von Derivaten deutlich: Mit einem Eigenkapital von unter 10 Mrd. US-Dollar bewegte LTCM eine Summe von $ 1,25 Billionen. Da seine Pleite - vor allem wegen der Fälligkeit von Kreditausfallversicherungen - zahlreiche andere Kreditinstitute mitgerissen und so eine Kettenreaktion an den Märkten ausgelöst hätte, wurde LTCM unter der Führung der Federal Reserve of New York mit einem Bail-Out in Höhe von $ 3,6 Mrd. gerettet (wobei das Geld - im Gegensatz zu späteren Rettungsaktionen - nicht vom Staat, sondern von anderen Finanzinstitutionen kam).

Trotz aller Beteuerungen der Politik, rechtliche Vorkehrungen zu treffen, um eine solche Situation nicht noch einmal eintreten zu lassen, wurden der Finanzindustrie in den folgenden Jahren keinerlei Beschränkungen auferlegt. Im Gegenteil: 1999, nur ein Jahr nach dem Beinahe-Crash, hob die US-Regierung unter Präsident Clinton das Trennbanken-Gesetz (das kommerziellen Banken das hochriskante Investment-Banking mit Einleger-Geldern im Gefolge des Crashs von 1929 fast siebzig Jahre lang verboten hatte) auf - ein deutliches Zeichen dafür, dass die Finanzwirtschaft inzwischen mächtiger als die Politik geworden war und ihr die Bedingungen, zu denen sie arbeiten wollte, diktierte.

Die Spekulationsorgie am internationalen Finanzcasino ging auf Grund der gesetzlichen Erleichterungen nicht nur weiter, sondern nahm an Fahrt auf. Internationale Großkonzerne steckten ihre Gewinne aus der Warenproduktion zunehmend in Finanzgeschäfte, weil dort schnellere und höhere Gewinne zu erzielen waren und missbrauchten die Realwirtschaft auf diese Weise als Zulieferer für die Finanzbranche. Gleichzeitig wurde das Kreditgeschäft durch die kontinuierliche Absenkung von Sicherheitsanforderungen durch die Banken ausgeweitet.


Der zweite Schock

Am ausgeprägtesten entwickelte sich dieser Trend auf dem US-Häusermarkt, wo Kredite angesichts stetig steigender Preise fast ohne Sicherheiten vergeben wurden - so lange jedenfalls, bis die Häuserpreise zu fallen begannen und der Markt fast über Nacht in sich zusammenbrach. Ausgelöst durch die diese sogenannte Subprime-Hypothekenkrise und den Zusammenbruch der Großbank Lehman Brothers im Jahre 2008 drohte - wieder einmal wegen fälliger Kreditausfallversicherungen - der Bankrott einer ganzen Reihe internationaler Finanzinstitutionen. Erneut stand der Crash des globalen Finanzsystems unmittelbar bevor.

Unter dem Vorwand, die betroffenen Geldhäuser seien „too big to fail“ („zu groß um sie zusammenbrechen zu lassen“), griffen diesmal die Regierungen der Staaten in großem Stil ein und retteten – sich über Recht und Gesetz hinwegsetzend - private Institutionen mit Hilfe öffentlicher Gelder. Allein die USA gaben unter dem Troubled Asset Relief Program (TARP) $ 245 Mrd. aus - das 68fache der Summe, mit der LTCM gerettet worden war.

Nicht nur die eingesetzten Summen waren erheblich höher als zehn Jahre zuvor. Auch die Auswirkungen dieses in letzter Minute abgewendeten Crashs gingen erheblich weiter und stellten Politik und Finanzindustrie in der Folgezeit vor drei große Probleme: Die Realwirtschaft stagnierte, die Staaten saßen auf Unmengen toxischer (wertloser) Papiere, die sie den Banken zu deren Rettung abgekauft hatten und die Banken brauchten auf Grund ihrer hohen Verluste dringend frisches Geld.

In höchster Bedrängnis folgte die Regierung in Washington dem Vorbild der japanischen Regierung und griff zu zwei Mitteln: Sie senkte die Zinsen und führte das "quantitative easing" (nichts anderes als ein beschönigender Ausdruck für Gelddrucken) ein. Unter dem Vorwand, den Banken billiges Geld zur Weitergabe an die Realwirtschaft zur Verfügung zu stellen, um diese wieder in Gang zu bringen, druckte die US-Zentralbank Federal Reserve in den folgenden Jahren fast 4,5 Billionen US-Dollar und vergab sie zu Nahe-Null-Zinsen an die Finanzindustrie.

Deren wichtigste Vertreter dachten aber gar nicht daran, das Geld in Form von Krediten an die Realwirtschaft weiterzureichen, sondern nutzten es, um sich wieder den Finanzmärkten zuzuwenden und erneut auf Spekulationsgewinne zu setzen.


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