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"Dark Matter"

07.04.2006  |  Walter Hirt
Wie könnte es anders auch sein, es lassen sich immer wieder "Experten" finden, die uns mit ihren wissenschaftlichen Analysen darüber aufklären, dass "alles gar nicht so schlimm" ist. Das jüngste Beispiel dazu ist eine elfseitige Expertise zweier Harvard-Ökonomen, der Herren Ricardo Hausmann und Federico Sturzenegger. Der programmatische Titel des Dokuments: "U.S. and Global Imbalances: Can Dark Matter Prevent a Big Bang?" ("Amerikanische und globale Ungleichgewichte: Kann "Dunkle Materie" einen Großen Knall verhindern?")

Diese Arbeit ist in den Medien des deutschen Sprachraums weitgehend untergegangen; nur die "Finanz und Wirtschaft" hat sich aufgrund eines Artikels in "The Economist" der Sache angenommen, und einige Adressen im Internet sind gefolgt - kritisch, befremdet, amüsiert, strikt ablehnend oder gar entsetzt, aber auch wohlwollend. WIRTSCHAFTaktuell hält die hier verkürzt dargestellt Analyse für eine willkürliche, abgebrühte Manipulation der Hochfinanz zur Begeisterung der Wall Street:

Hausmann und Sturzenegger definieren "Dark Matter" als Poistivum und stellen fest, dass 1980 das Vermögen der USA im Ausland 365 Mrd. $ mehr wert war als ihre Schulden im Ausland; Erlöse im Ausland abzüglich Schuldendienst ergaben einen Nettoertrag von rund 30 Mrd. $. Dieser Ertrag ist bis 2004 bei geringen Schwankungen relativ stabil geblieben, obschon die Auslandschulden massiv gestiegen sind - auf offiziell über 2,5 Billionen Dollar; die USA sind die Nation mit der weltgrössten Auslandverschuldung (Sie wissen, dass dieses Obligo, mit effektiven Zahlen gerechnet, noch schwerer wiegt).

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Chart: "The Economist"


Die beiden Harvard-Herren brillieren nun mit einer atemberaubenden Argumentation: Das Geheimnis liege nicht so sehr im Erlös als vielmehr im Schuldenberg. Ein Land, das aus seiner finanziellen Position gegenüber dem Ausland fortwährend gutes Geld verdiene, könne nicht der grösste Schuldner sein; Amerika habe eben mehr Guthaben im Ausland als die offiziellen Zahlen zeigten. Daraus sei zu folgern, dass die USA keinen Schuldenberg von 2,5 Bio. $ haben. Und da der jährliche Ertrag für die USA im Durchschnitt rund 30 Mrd. $ betrage, sei bei einer angenommenen Verzinsung von 5% ein Auslandguthaben von etwa 600 Mrd. $ zu vermuten. Et voilà, Hokuspokus - die 2,5 Bio. $ und die 600 Mrd. $ resultieren erfreulicherweise als "Dark Matter von 3,1 Billionen Dollar", eine sinngebende Bezeichnung aus der Astronomie (dunkle Materie, die an ein Schwarzes Loch denken lässt).

Was liegt hinter dieser dunklen Materie? Mit ihren Investitionen im Ausland exportieren die Vereinigten Staaten gleichzeitig Marken, Fachwissen, Erfahrung, Glamour, Kultur, Forschung und Entwicklung sowie Vertrauen - alles Werte, die nicht in die statistischen Aufzeichnungen einfliessen. Als Beispiel dazu wird ausgerechnet "Eurodisney Paris" angeführt, dessen Wert die Investitionskosten oder den Buchwert bei weitem übertreffen würden. Die Differenz erkläre den grössten Teil des unsichtbaren Auslandvermögen und damit den Wert der dunklen Materie. Ziemlich süffisant wird angefügt, dass die Erlöse aus dem Ausland für die USA viel höher seien als die reale Verzinsung für die Ausländer, die vorwiegend Treasury-Papiere mit relativ niedriger Verzinsung halten. (Ach, wie schön wäre es, falls Starbucks und McDonald’s bald in einem Schwarzen Loch verschwinden würden; "Werte", "Kultur" und "Glamour" hin oder her!)

Was für die Amerikaner und die Weltwirtschaft wirklich zählt, sind doch die massiv steigenden Defizite für die US-Privathaushalte (oben) und die US-Leistungsbilanz, beide bezogen auf das BIP; das jährliche Minus der Leistungsbilanz (Current Account) nähert sich rasch den 8 Prozent, denn die veröffentlichte US-Handelsbilanz (mit Waren und Dienstleistungen) weist für das Jahr 2005 ein Minus von 725,8 Mrd. $ auf - 108,2 Mrd. $ oder 17,5% mehr als 2004. Das Handelsdefizit mit China hat mit 201,6 Mrd. $ ebenfalls einen neuen Rekordwert erreicht. Wahrlich keine Pralinen für Ben S. Bernanke, eher gemeine Giftpillen mit Langzeitwirkung: rasch wachsender Protektionismus!

Ob der neue Fed-Chairman über die Dark Matter amused ist, war bisher nicht zu erfahren. Die meisten Investmentbanker und Politiker mögen natürlich die Botschaft aus Harvard, denn sie verschafft Luft beim Tragen schwerer Lasten und Anreize zur kreativen Entfaltung für neue
grosse Taten mit fremdem Geld. Um nicht mit allfällig falschen Überlegungen in eine Falle zu geraten, habe ich - erstaunt und verärgert über so viel akademische Arroganz - das Gespräch mit Dr. Heinz-Werner Rapp gesucht, der mir erzählt hat, vor ein paar Monaten sei eine sehr ähnliche "Studie" zweier Franzosen an den Universitäten Princeton und Berkeley enstanden, mit der zu erklären versucht wurde, weshalb der Dollar gar nicht schwach tendieren könne.

Für den Fall, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, die Zeit und die Lust haben, sich kritisch mit dem "monetären Wunder" auseinanderzusetzen, das zum neuen Schlagwort im Vokabular der Wall Street wird, nenne ich Ihnen ein paar interessante Adressen für lesenswerte Beiträge:
  • Zynischer Kommentar von "The Economist" mit dem Titel: "Das US-Leistngsbilanzdefizit eine reine Erfindung schlechter Buchführung?"
  • John Mauldin öffnet sein "Outside the Box" für zwei kritische Stimmen: Tim Drayson von ABN Amro UK und Martin Barnes, Herausgeber des "Bank Credit Analyst"
  • Als Ausnahme unter den Investmentbanken wagt sich Goldman Sachs kritisch vor und umgeht tapfer die typischen Beschönigungen dieser Branche; Willem Buiter, Jim O’Neill, Wiliam Dudley und Ed McKelvey haben darüber einen ausführlichen und seriösen Report verfasst
  • "The Wall Street Journal" (WSJ) ist unter den bedeutenden Zeitungen ebenso eine Ausnahme; der relativ ausführliche Kommentar ist fair, aber vernichtend
  • Das pure Gegenteil bietet "BusinessWeek", ein typisches Mainstream-Blatt, das oft zur einer "Contrary Opinion" veranlasst und deshalb letztlich auf die richtige Fährte führt. Michael Mandel hat "Dark Matter" für die Ausgabe von BW am 13. Februar zur Titelgeschichte gemacht und dazu unter dem Titel "Unmasking the Economy: Why It’s Stronger Than You Think" einen für einfachere Geister verführerischen Unsinn zusammengeschrieben (wie auch das WSJ meint)
  • Ein typischer Blog mit kompetenten Teilnehmern und klaren Aussagen: "On the origins of dark matter"
  • Kommentar von Rainer Sommer auf den Seiten von "heise-online"
  • Für den Fall, dass jemand Gefallen an den Arbeiten des bei "Dark Matter" federführenden Federico Sturzenegger findet, sind weitere Artikel und Analysen von ihm zu finden. Seine Funktion: "Visiting Professor of Public Affairs" der Kennedy School of Government an der Harvard University

Wie nicht anders zu erwarten, sind die Cracks an Wall Street von "Dark Matter" begeistert und riechen aufgegeilt an der glimmenden Lunte, die Hausmann + Sturzenegger ausgelegt haben. Und sie kennen auch schon eine tolle Lösung für den Fall, dass die Immobilienblase platzen sollte und ihre Geschäfte wegen anfallender Verluste in die Miese gehen. Über weitere Abwertungen des Dollars könnten die Anlagen und Direktinvestitionen im Ausland gesteigert werden, wodurch die grössere "Dark Matter" weitere lukrative Geschäfte ermöglichen würde. Ein neues Wunder: Der Dollar würde immer schwächer und die Amerikaner immer reicher! Allein daraus ist mit gesundem Menschenverstand zu folgern: Dark Matter ist ein Surrogat für das Versagen à l’Americaine und ein grosser Bluff zugunsten der Hochfinnz, die sich ihre Dominanz sichern will.


© Walter Hirt
aus "WIRTSCHAFT aktuell"



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