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Die vergessene Kunst des Debattierens

20.03.2022  |  Claudio Grass
Ein schneller Blick auf die verschiedenen Schlagzeilen oder 5 Minuten durch die Fernsehsender zu zappen reicht aus, um selbst den naivsten Nachrichtenkonsumenten davon zu überzeugen, dass an der Art und Weise, wie sich der öffentliche Diskurs über die letzten Jahre in unseren Gesellschaften (zurück)entwickelt hat, irgendetwas ernsthaft faul ist.

Natürlich mangelte es dem Journalismus niemals vollständig an Vorurteilen, nicht einmal in seinem "goldenen Zeitalter". Reporter und Redakteure sind schließlich auch nur Menschen und ihre eigenen Ansichten, Überzeugungen, Hoffnungen und Auffassungen haben die Früchte ihrer Arbeit schon immer beeinflusst, ob absichtlich oder nicht. Doch diese Art von Voreingenommenheit ist Meilen von dem entfernt, was wir in den letzten zehn Jahren erlebt haben, vor allem nach dem Aufstieg der sozialen Medien und der Online-Verbreitung von Nachrichten.

Heute gibt es nicht nur leicht verzerrte Berichte und voreingenommene Ansichten, die in die Nachrichtenartikel "durchsickern". Wir sind zu deutlich gefährlicheren Praktiken übergegangen, von denen man keine als unbeabsichtigt oder ungewollt entschuldigen könnte und die von "kuratierten" Beweisen und sorgfältig ausgelassenen Fakten bis hin zu vollständig erfundenen Narrativen reichen. Angesichts des heutigen Ausmaßes an "Nachrichteninhalten" und der Geschwindigkeit, mit der sie auf der Welt verbreitet werden, haben normale Bürger keine Zeit, inne zu halten und auch nur die wichtigsten und folgenreichsten Geschichten auf Fakten zu überprüfen.

Stattdessen scrollen sie einfach weiter durch ihren Feed und überfliegen hunderte Schlagzeilen, die alle sorgsam von fortschrittlichen Algorithmen ausgewählt wurden, um ihren bestehenden Ansichten zu entsprechen. Selbst wenn sie also die Zeit hätten, ihre eigenen Recherchen darüber durchzuführen, was der Wahrheit entspricht und was nicht, hat fast niemand die Motivation, dies auch zu tun. Die eigenen Überzeugungen zu hinterfragen, ist eines der beängstigendsten und abschreckendsten Abenteuer, auf die wir uns je begeben können, und genau deshalb tun dies so wenige. Und das ist genau das, auf was sich das Establishment, die Tech-Giganten, die politische Elite und die Mainstream-Nachrichtenkonglomerate verlassen.

Viele von denjenigen, die dem politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Status quo oftmals kritisch gegenüberstehen, einschließlich mir selbst, sind manches Mal vielleicht etwas zu schnell dabei, mit dem Finger auf die Machthaber zu zeigen und ihre Gier und egomanische Macht- und Kontrollbesessenheit für alles verantwortlich zu machen, was uns, als Gesellschaften und Nationen, plagt. Während ein sehr großer Teil dieser Schuld sicherlich gerechtfertigt ist und zu Recht den Politikern und ihren "erweiterten Familien" zur Last gelegt wird, wäre es nicht nur unfair, sondern auch feige, zu behaupten, sie seien die einzigen, die für diesen Zustand der "Entzivilisierung" verantwortlich sind, in dem wir uns heute befinden.

Wie bei jedem Problem, das uns als Individuen direkt betrifft, halte ich es für einen guten Anfang, die Antwort auf die Schuldenfrage im eigenen Spiegelbild zu suchen. Und wenn es um den erbärmlichen Zustand des öffentlichen Diskurses geht, findet man ausreichend Indizien dafür, dass wir, als Bürger, als Steuerzahler und als Freidenker, damit vielleicht auch etwas zu tun haben könnten.

Zum einen ist es sehr schwer vorstellbar, dass die "Spalte & Herrsche"-Rhetorik, der wir seit Jahrzehnten bereits ausgeliefert sind, jemals so effektiv hätte sein können, wenn sich die politische Gemeinschaft geweigert hätte überhaupt erst entzweit zu werden. Es ist ebenfalls zweifelhaft, dass die Flut an "Fake News" und erfundenen Narrativen so schädlich gegenüber unserem gesellschaftlichen Zusammenhalt gewesen wäre, wenn wir, als Individuen, weniger Angst davor hätten, Geschichten in Frage zu stellen, die bestätigen, was wir bereits als wahr ansehen.

Der Kern all dieser Probleme liegt in einem sehr verstörenden Trend: Die Kunst der Debattierens und das Konzept des zivilisierten und offenen Dialogs sind fast vollkommen ausgestorben. Die grundlegenden Prinzipien des freien Meinungsaustauschs, die den Grundstein der westlichen Zivilisation darstellen, werden in diesen Tagen nicht nur direkt herausgefordert, sondern werden auch zunehmend zu Blasphemie - und wir haben dies akzeptiert und zugelassen.

Beispielsweise kann man keine produktive Debatte über eine Thematik führen, bei der die Parteien verschiedene Meinungen vertreten, ohne die Möglichkeit einzuräumen, dass man selbst im Unrecht sein könnte. Natürlich sollte man diese Möglichkeit idealerweise nicht nur einräumen, sondern auch begrüßen, da es für jeden rationalen Geist offensichtlich ist, dass richtig zu liegen ziemlich wertlos ist im Vergleich dazu, korrigiert zu werden und sich zu verbessern und zu perfektionieren.

Und dennoch ist die moderne Gesellschaft intellektuell so schwach und fragil geworden, dass wir den Punkt erreicht haben, an dem wir das Falschliegen mit Beleidigung gleichsetzen und uns persönlich angegriffen und emotional verletzt fühlen. Diese infantile Überzeugung hat jeden echten Dialog essentiell unmöglich gemacht. Sie hat die Mehrheit der Bevölkerung in bockige Kleinkinder und die verbliebenen Erwachsenen in Neurotiker verwandelt, die wie auf rohen Eiern gehen und ihre eigenen Ideen zensieren, aus Angst, sie könnten eines Tages versehentlich einen innovativen Gedanken äußern und in ihren Gemeinschaften ein Blutbad auslösen.

Aufgrund dieser selbstauferlegten Unterwerfung des eigenen Geistes hatte diese polarisierende, schädliche Rhetorik überhaupt erst die Chance auf Erfolg.


© Claudio Grass
www.claudiograss.ch


Dieser Artikel wurde am 17.03.2022 auf claudiograss.ch veröffentlicht und exklusiv für GoldSeiten übersetzt.


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