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Der Tod der Mittelschicht ist der Tod der Zivilgesellschaft

28.01.2023  |  Claudio Grass
Die Mittelschicht im Westen schrumpft schon seit Jahren, aber nach der COVID-Krise und vor allem nach der Inflationsexplosion ist das, was von ihr übrig geblieben ist, im Grunde vom Aussterben bedroht. Das hat immense gesellschaftspolitische Auswirkungen. Wenn eine Gesellschaft, egal zu welchem Zeitpunkt in der Geschichte, in Besitzende und Nichtbesitzende gespalten wird, kommt es schnell zu Instabilität und gefährlichen Spannungen.

Der Rückgang der Vernunft und des Respekts vor den Mitmenschen und ihrem Eigentum, das Gefühl der Ungerechtigkeit und der Verzweiflung machen jede Art von Debatte und zivilisiertem Dialog unmöglich, und die schlimmsten "Führungspersonen" treten auf, um beide Seiten zu "vertreten".

Wir haben dies in der Vergangenheit unzählige Male erlebt, und es gibt viele Beispiele aus der ganzen Welt. "Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen", wie ein englisches Sprichwort besagt, und diese Maßnahmen sind selten wirksam, klug oder nachhaltig. Ich bin jedoch der Ansicht, dass dieser kritische und äußerst gefährliche Punkt der Verzweiflung der Masse nicht unbedingt jedes Mal erreicht wird, wenn die Haushaltsfinanzen knapp werden und der Druck steigt.

Es ist nicht die "heutige" Not, die sie auslöst, sondern die "morgige". Mit anderen Worten: Die wahre Verzweiflung ist dann erreicht, wenn die Hoffnung verloren geht, wenn die Menschen keine bessere Zukunft mehr sehen oder sich nicht mehr vorstellen können, wie die Dinge für sie oder ihre Kinder besser werden könnten. Das ist es, was zur Polarisierung der Gesellschaft führt, was diese giftige "Wir-gegen-sie"-Weltanschauung kultiviert, und das ist genau das, womit wir gerade konfrontiert sind.

Wie Reuters Mitte Januar berichtete, "hat das Edelman Trust Barometer, das seit über zwanzig Jahren die Einstellungen von Tausenden von Menschen abfragt, festgestellt, dass der Wirtschaftspessimismus in einigen der weltweit führenden Volkswirtschaften wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Deutschland und Japan am größten ist. Kaum zwei von fünf Menschen glauben, dass es ihren Familien in Zukunft besser gehen wird, so das Ergebnis einer regelmäßig durchgeführten weltweiten Umfrage, die in Haushalten mit niedrigem Einkommen auch ein wachsendes Misstrauen gegenüber Institutionen feststellte."

Aber es kommt noch schlimmer. Wie ich schon unzählige Male in meinen Artikeln und Vorträgen hervorgehoben habe, treffen schädliche und rücksichtslose staatliche Maßnahmen nicht allen gleichermaßen. Sie zerstören diejenigen, die am dringendsten Hilfe benötigen, also genau die Menschen, für die die Politiker angeblich "kämpfen". Und diese Menschen sind nicht dumm, auch wenn sie seit jeher behandelt werden, als seien sie es.

Wie die Edelman-Umfrage bestätigte, "haben Haushalte mit höherem Einkommen immer noch großes Vertrauen in Institutionen wie die Regierung, die Wirtschaft, die Medien und NROs. Aber die Entfremdung ist unter den einkommensschwachen Gruppen weit verbreitet." Und warum sollte das nicht so sein? Die meisten dieser Menschen gehörten einst zur unteren Mittelschicht, bis sie ihre Arbeitsplätze aufgrund der Lockdowns und Geschäftsschließungen verloren, und selbst diejenigen, die sie behalten konnten, mussten später mit ansehen, wie ihre Löhne aufgrund der in die Höhe geschossenen Preise dahinschwanden.

Sie sind jetzt die Erwerbsarmen, die tagein, tagaus schuften, ihre Steuern als pflichtbewusste Bürger zahlen, aber darum kämpfen, Essen auf den Tisch zu bringen. Sie wurden im Stich gelassen, sie wurden belogen und vom Staat und allen mit ihm verbundenen Institutionen, ob öffentlich oder privat, betrogen.

In Europa ist dieses Phänomen besonders ausgeprägt, wo der Zusammenbruch der Mittelschicht durch die EU und ihren Umgang mit jeder Krise der letzten Zeit, von der Pandemie über den Ukraine-Krieg bis hin zur Energiekrise, beschleunigt wurde. Dort hat das "Prekariat" (ein relativ neuer Begriff, der die Begriffe "prekär" und "Proletariat" zusammenfasst) eine drastische Verschlechterung seiner Lebensbedingungen und seiner Zukunftsaussichten erlebt.

In Spanien sind Patienten mit chronischen Krankheiten, die zu Hause eine Dialyse oder ein Sauerstoffgerät benötigen, in die Armut gestürzt, und viele von ihnen sind in der unvorstellbaren Lage, sich ihr Überleben nicht mehr leisten zu können. In Deutschland haben die Krankenhäuser ebenfalls Schwierigkeiten, lebensrettende Maschinen in Betrieb zu halten, da sie viel Energie verbrauchen. In Griechenland "weigern sich Krankenhauspatienten, entlassen zu werden, wenn sich ihr Gesundheitszustand verbessert, weil sie nirgendwo hingehen können und sich die Lebenshaltungskosten nicht leisten können", wie die Krankenhausarbeitergewerkschaft berichtet.

Und leider ist dies höchstwahrscheinlich erst der Anfang. Das Wetter war in diesem Winter bisher außerordentlich mild und hat Europa geholfen, einen weiteren Anstieg der Heiz- und Kraftstoffkosten zu vermeiden. Allerdings darf man sich nicht darauf verlassen, dass dieser glückliche Umstand von Dauer ist. In dem Moment, in dem die Kälte einsetzt, werden sich noch viel mehr Mitglieder des Prekariats in einer ähnlichen Situation befinden.


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