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Der nüchterne Realitätssinn der Investoren. Oder: Gefangen im Sicherheitsnetz

30.05.2023  |  Prof. Dr. Thorsten Polleit
Wir gehen der Frage nach "Werden die Zentralbanken vielleicht schon in den kommenden Monaten die Leitzinsen senken – also früher, als die Marktakteure derzeit erwarten?" Unsere Antwort ist: sehr wahrscheinlich ja. Wir empfehlen, physisches Gold und Silber zu halten.

"Wenn du nicht irrst, kommst du nicht zu Verstand."
Johann Wolfgang von Goethe
Faust. Der Tragödie zweiter Teil, 2. Akt, Szene: Am obern Peneios


Sicherheitsnetz

Das Verdrängen von Unangenehmem und Unliebsamem ist etwas, was in der menschlichen Psychologie wohl bekannt ist. Man spricht hier auch von Dissoziation, also der Abkopplung der menschlichen Psyche von der Realität.

Das geschieht, weil Menschen sich selbst zu schützen versuchen vor Einsichten und Gefühlen, die als lästig oder allzu belastend angesehen werden. Das, was nicht gewünscht ist, wird aus den eigenen Gedanken, aus dem Bewusstsein verbannt und ins Unterbewusste verschoben. So gut wie jeder Mensch greift tagtäglich zu Dissoziationen, und im Regelfall ist damit auch kein größeres Problem für sie verbunden. Ein gewisses Maß an Dissoziation ist also so gesehen nur allzu menschlich.

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Quelle: Refinitiv; Graphik Degussa. * High-Yield-Anleihen.


Ein flüchtiger Blick auf das Kapitalmarktgeschehen könnte nun allerdings leicht den Eindruck erwecken, die Investoren verdrängten den Ernst der Lage: Trotz der jüngsten Erschütterungen im US-Bankenmarkt, der Liquiditätshilfen der US-Zentralbank (Fed) an die US-Geldhäuser und der nicht nur in den USA, sondern auch weltweit stark steigenden Verschuldung zeigen sich die Kreditmärkte nach wie vor in geradezu entspannter Verfassung. Dieses Bild lässt sich Abb. 1 entnehmen. Sie zeigt die Notkredite in Mrd. US-Dollar, die die US-Zentralbank (Fed) den US-Banken gewährt hat sowie die Kreditprämie (also den Aufschlag von risikoreichen Anleihen gegenüber US-Staatsanleihen) von Januar 2007 bis Mai 2023.

Gut zu erkennen ist hier die gewaltige Erschütterung im Zuge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009. Die Fed pumpte neues Geld in den US-Bankensektor (indem sie übrigens auch Staats- und Hypothekaranleihen kaufte), um die um sich greifenden Kreditausfallsorgen – die in Form von steigenden Kreditprämien zum Ausdruck kamen – einzudämmen. Die "Systemrettung" gelang, und die Kreditmärkte beruhigten sich wieder, die US-Banken zahlten die Notkredite an die Fed zurück.

Im Zuge der politisch diktierten Lockdown-Krise 2020/2021 geschah Ähnliches: Der plötzliche wirtschaftliche Stillstand ließ Investoren befürchten, dass viele Schuldner ihren Schuldendienst nicht mehr wie vereinbart leisten könnten. Um die Zahlungsausfallsorgen zurückzudrängen, vergab die Fed erneut Notkredite an die US-Banken und sicherte so deren Liquidität. Das Ausmaß der Kredit- und Kreditprämienausweitung blieb jedoch weit hinter dem, was in 2008/2009 beobachtbar war, zurück. Ganz offensichtlich waren die Finanzmärkte in 2020/2021 zuversichtlicher als noch in 2008/2009, dass die US-Zentralbank das Finanz- und Wirtschaftssystem über Wasser halten würde.

Vor diesem Hintergrund sind die Marktbewegungen im März 2023 ganz besonders interessant: Wie in Abb. 1 ebenfalls zu erkennen ist, schnellten die Notkredite der Fed gewaltig in die Höhe, nachdem die Silicon Valley Bank Pleite anmeldete und von der US-Einlagensicherung FDIC geschlossen wurde. Gleichzeitig jedoch verharrten die Kreditprämien auf relativ niedrigen Niveaus.

Es liegt also nahe zu schlussfolgern, dass die Finanzmärkte mehr denn je darauf gesetzt haben, dass die Zentralbank letztlich keine Kredit- beziehungsweise Zahlungsausfälle im großen Stil zu lassen wird. Das Kalkül der Investoren ging (bisher) auf: Das US-Bankensystem blieb liquide, ein systembedrohen-der Bankensturm ("Bank Run") fand nicht statt.

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Quelle: Refinitiv; Graphik Degussa.
Der Liquiditätsbestand, den die US-Banken halten, beläuft sich auf etwa 18 Prozent der gesamten Kundendepositen. Das heißt, die US-Banken könnten, wenn plötzlich alle Kunden ihre Depositen in bar abheben wollten, nur 18 Prozent der Bargeldauszahlungswünsche mit den eigenen Kassenguthaben bestreiten.



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