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Europäisches Finanzsystem taumelt

02.10.2008  |  Klaus Singer
TARP passierte den US-Senat in der Nacht zum Donnerstag mit eindeutiger Mehrheit . Die Kernelemente blieben unverändert, der Deckel der Einlagenversicherung wird von 100.000 auf 250.000 Dollar hoch gesetzt. Auch bei anderen Punkten gibt es kleinere Entgegenkommen hinsichtlich der Kritik des Repräsentantenhauses. Eine weitere Abstimmung im Repräsentantenhaus ist für Freitag vorgesehen. Im Grunde bleibt es dabei: Für die Rettung des Finanzsystem werden 700 Mrd. Dollar bereit gestellt.

Bisher haben die Banken weltweit mehr als 500 Mrd. Dollar an Verlusten ausgewiesen bei insgesamt 370 Mrd. Dollar an Eigenkapital. Auf die Banken der USA entfällt die Hälfte, dem steht ein Kapital von gut 180 Mrd. Dollar gegenüber. 235 Mrd. Dollar haben die europäischen Banken an "Miesen" angehäuft, bei einem Eigenkapital von insgesamt 164 Mrd. Dollar. Die asiatischen Finanzinstitute nehmen sich da aus wie die Insel der Seeligen: Einem Verlust von 24 Mrd. Dollar steht ein Kapital von 22 Mrd. Dollar gegenüber.

Es scheint so, als sei vor allen das US-amerikanische Finanzsystem in Not. Aber der Schein trügt - die schöne Fassade der europäischen Bankenwelt hat mit der Rettungsaktion hinsichtlich Hypo Real Estate deutliche Risse bekommen. Das Hauptproblem hier ist das hohe Verhältnis der Vermögenswerte zu Eigenkapital. Verschuldungshebel von mehr als 30 bis in den Bereich von 50 hinein sind bei international operierenden europäischen Banken keine Seltenheit. Der Infectious Greed Blog (Link auf der Web-Seite der TimePattern) listet die Hebel großer europäischer Institute auf.

Die vorläufige Rettung der amerikanischen AIG hat das europäische Bankensystem zunächst vor gewaltigem Ungemach bewahrt. Wie Paul Kedrowsky im genannten Blog berichtet, hat die Versicherungsgruppe Schrott-"Assets" im Volumen von 300 Mrd. Dollar in den Büchern europäischer Banken per CDS versichert. AIG schreibt dazu: "…. zum Zweck regulatorisches Kapital zu beschaffen, nicht zum Zweck des Risikoübergangs, im Gegenzug für eine minimale Garantiesumme." Kedrowsky zieht den Schluss, europäische Banken hätten lange mit ihren Regulierern gespielt, sie haben viel weniger (werthaltiges) Kapital als nötig. AIG hat das Loch gefüllt - jedenfalls nach außen hin (und zeitweise). Dies alles zeigt nur, welche Gefahren hier lauern.

Ein gemeinsamer Brief bekannter europäischer Volkswirte warnt vor einer akuten Gefahr eines Finanz-Kollapses und einer Depression in Europa. Eine Systemkrise benötige eine systemische Antwort, heißt es. Ad-hoc-Aktionen helfen dann nicht mehr, insbesondere angesichts der engen Verflechtungen der einzelnen nationalen Institute. Man fordert unter Bezug auf die hohen Hebel der international aktiven Banken in Europa einen koordinierten Beitrag der EU, diese Institute zu rekapitalisieren. Außerdem müssten die Einlagensicherungssysteme harmonisiert werden. Übergeordnet muss an der Regulierung der europäischen Finanzmärkte und Finanzinstitutionen gearbeitet werden. Das Problem sei nicht das fehlende Verständnis, wie die Krise zu stoppen ist. Das Problem sei der fehlende politische Wille. Die Volkswirte rufen die europäischen Führer auf, sich sofort zusammen tun, bevor die Krise außer Kontrolle gerät.

Steinbrück, der deutsche Finanzminister, hat sich in einem Interview mit der FT gegen einen europäischen Rettungsplan ausgesprochen - er sei unnötig. "Die Rente ist sicher."

Die Zweifel bleiben, ob der TARP-Rettungsplan den Geldmärkten viel helfen wird. Mancher Beobachter argumentiert, er könnte alles noch schlimmer machen: Die Fed werde als alleiniger Leihgeber übrig bleiben. Das könne dazu führen, dass schließlich die Fed herausgehauen werden muss. Hierzu muss das Schatzamt mehr Treasury Bills auflegen. Die Empfänger von TARP-Mitteln horten Cash, um in um sich greifender Panik, diese Bills zu kaufen. Die Kredite an Unternehmen und Privatleute würden weiter austrocknen. Das Ergebnis sei eine Kreditkontraktion um viele Billionen Dollar weltweit, die eine Dekade andauern könnte, mit anderen Worten, keine Rezession, sondern eine Depression.

Einigkeit besteht bei den Beobachtern jeglicher Couleur darin, dass der "deleveraging process" aktuell zu schnell vonstatten geht, als dass die Weltwirtschaft ihn verkraften kann. Er muss verlangsamt werden, um einen Crash zu verhindern.

Um zu klären, welche Maßnahmen helfen, haben die Volkswirte Luc Laevan und Fabian Valencia des IWF 124 systemische Bankenkrisen zwischen 1970 und 2007 untersucht. In keinem der betrachteten Fälle blieb der Staat untätig, insofern gibt es keine Hinweise darauf, was ohne Intervention geschehen wäre. Es scheint aber einen negativen Zusammenhang zwischen den Output-Verlusten und den Fiskalkosten zu geben: Was durch Nicht-Intervention an staatlichen Mitteln gespart wird, geht durch Verluste bei den Steuereinnahmen zur Hintertür hinaus - und mehr.

Die Autoren ziehen in ihrer Untersuchung folgende Schlüsse: Es muss schnell gehandelt werden, Verschleppung und auf Zeit spielen, ist eine schlechte Idee. Der wie bei TARP auch vorgesehene breite Ankauf schlechter „Assets“ durch eine staatliche Agentur ist nicht sehr viel versprechend. Die Rekapitalisierung der Banken muss im Mittelpunkt aller Anstrengungen stehen, dabei soll selektiv vorgegangen werden, die Institutionen mit besseren Aussichten sollen gestützt, die anderen fallen gelassen werden. Außerdem sollen gezielt Schuldner mittels öffentlicher Fonds entlastet werden.

Teuer wird es in jedem Fall: Die Autoren haben an öffentlichen Kosten für staatliche Kriseninterventionen im Durchschnitt 13 Prozent des BIP ermittelt, dabei würden 18 Prozent der Bruttoaufwendungen anschließend wieder eingespielt. Nimmt man das als Maßstab, hätten die USA mit insgesamt 1,8 Bill. Dollar an Kosten für die Rettung aus der jetzigen Finanzkrise zu rechnen. Bisher sind mit TARP und den schon vorher geleisteten, fallweisen Aktionen etwa 1,1 Bill. Dollar vorgesehen. Die Heraufsetzung des Deckels der Einlagenversicherung wird noch einmal mit mehr als 100 Mrd. Dollar zu Buche schlagen (oder unbezahlbar sein...).

Kommt TARP im zweiten Anlauf durch das Repräsentantenhaus? Ich gehe davon aus. Selbst wenn es nicht der Weisheit letzter Schluss ist, wie die Autoren der Studie aufzeigen - kann er die Rückabwicklung der über 4 Dekaden, davon in den vergangenen sechs Jahren exponentiell beschleunigt aufgepumpte Kreditblase zumindest wieder in geordnetere Bahnen lenken? Ich weiß es nicht. Einige Zeichen (siehe unten) deuten aber ein zartes "Ja" an.

Ganz aktuell dürfte der über 60 Bill. Dollar große CDS-Markt vor einer Belastungsprobe stehen. Jetzt beginnen die Auktionen zur Regulierung der mit „credit events“ bei Fannie Mae, Freddie Mac, Lehman Bros, Washington Mutual und anderen getriggerten Fälligkeiten entsprechender Versicherungsgarantien. Der Umfang dessen, was da kommt, ist weitgehend unklar. Im Falle F&F bewegen sich die Schätzungen auf 15 bis 80 Mrd. Dollar. Lehman hat Verbindlichkeiten in Höhe von über 600 Mrd. Dollar zurückgelassen.

Und der Dollar fällt gegen Euro - nichts Neues, das geschieht seit Tagen, als der langfristig wichtige Pegel bei 1,4650 Bestand hatte. Heute aber fällt er auch unter die Untergrenze des langfristigen Aufwärtskanals. Gleichzeitig löst sich Dollar/Yen von den Tagestiefs. Das Währungspaar hat Euro/Yen in seiner Bedeutung als "Carry-Trade-Indikator" abgelöst. Falls in den USA finanziell "Land unter" wäre, würde es meiner Meinung nach bei beiden Basiswerten anders aussehen - ganz anders. Auch die Bewegung des Goldpreises zeigt sich momentan nicht "Endzeit"-verdächtig. Hier dürfte es nun erst einmal eher an den unteren Rand des langen Aufwärtskanals im Chart gehen als in Richtung "Dausend".

Was die Aktienmärkte angeht, so steht ein Belastungstest wichtiger Supportzonen an. Da wären beim Dow 10750, beim S&P 1155 und beim NDX 1555 zu nennen. Sie wurden gestern per Handelsschluss nach deutlichem intraday-Tauchen überwunden, heute dürfte ein weiterer Test anstehen. Vor dem morgigen Bericht über die amerikanischen Arbeitsmarktdaten herrscht höchste Unsicherheit, insbesondere auch nach dem unerwartet großen Einbruch beim landesweiten ISM-Index auf klares Rezessionsniveau. Beobachter rechnen mit einem weiteren Abbau von rund 100.000 Stellen. Möglicherweise baut sich da eine (kleine) positive Überraschung auf.


© Klaus G. Singer
www.timepatternanalysis.de










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