Nicht im Namen des Volkes
23.07.2009 | Peter Boehringer
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Die volksnahe Demokratie erodiert seit JahrzehntenDas Hauptproblem an dem Urteil ist, dass es mindestens 15 Jahre zu spät kommt; eigentlich 45. Hätte das BVG schon bei den ersten Souveränitätsanmaßungen der EU (EWG) 1963 die weiteren Integrationsschritte einer strengen Einzelfallüberprüfung durch den Bundestag (oder besser durch Referenden) unterworfen, dann wäre das in der Tat ein epochales Urteil gewesen. Deutschland ist seit Jahrzehnten ohne Mehrheit im Volk in die EU-Integration und in den Euro getrieben worden. Jetzt einige Integrationsgrenzen zu ziehen, ist so, als würde man nach einem Autoabsturz vom Steilhang kurz vor dem Aufprall die Handbremse anziehen.
Voßkuhle erging sich in der Urteilsbegründung vielfach in volksferner, hochideologischer und internationalistischer Rhetorik: "Souveräne Staatlichkeit steht [nur] für einen befriedeten Raum."; "Der Staat ist kein Selbstzweck."; "Das Grundgesetz will eine europäische Integration."; "Das Europäische Parlament … kann und muss in seiner Zusammensetzung nicht den Anforderungen entsprechen, die sich auf der staatlichen Ebene aus dem gleichen politischen Wahlrecht aller Bürger ergeben. Die Kommission muss als ein supranationales, besonderes Organ ebenfalls nicht umfänglich den Bedingungen einer entweder dem Parlament oder der Mehrheitsentscheidung der Wähler voll verantwortlichen Regierung genügen, weil sie selbst nicht in vergleichbarer Weise dem Wählerwillen verpflichtet ist."
Alles klar? Das letztgenannte Zitat muss man sich auf der Zunge zergehen lassen! Dass die Ernennung der EU-Kommissare und die höchst indirekten Wahlen der EU-Organe in der Praxis mit Demokratie fast nichts mehr zu tun haben, interessiert das BVG nicht. Das Volk, in dessen Namen hier Unrecht gesprochen wurde, würde diese Sprüche den Richtern am liebsten in den Mund zurückschieben - ebenso wie das Urteil. Und die Verfasser des Grundgesetzes (GG) würden sich im Grabe umdrehen.
Deutschland war bis 2009 mit etwas gutem Willen eine Republik, ein Rechtsstaat. Das ist (war) viel mehr als eine Demokratie, die insbesondere die Herrschaft des Volkes verbrieft. Beides wird per 2010 nun endgültig aufgegeben - freiwillig durch die deutschen "Volksvertreter" im Bundestag und im BVG. Kleinere Rechtsstaats-Reste mit noch nationaler Gesetzgebungskompetenz und ebenso die noch gültigen kleinen Reste des GG werden die internationalistischen Lemminge im Bundestag und neue, noch willigere BVG-Richter im Laufe der kommenden Jahre schleifen. Freiheit verliert man scheibchenweise.
Sie glauben das alles nicht? Hier Formulierungen aus dem Urteil und aus der Presse im Kontrast zur Realität:
- 1. Wächterrolle des BVG über das Grundgesetz
Das BVG beansprucht eine "Prüfungskompetenz" zur Wahrung des "unantastbaren Kerngehalts der Verfassungsidentität des Grundgesetzes".
Realität: Das GG ist schon seit Jahrzehnten von EU-Recht ausgehöhlt worden, ohne dass das BVG substanziell eingeschritten wäre. Die vom BVG geforderte Änderung des Begleitgesetzes bezieht sich nur auf die künftige Weiterentwicklung der EU-Integration. Diese ist aber mit Lissabon weitgehend abgeschlossen. De facto könnte das Urteil nur noch marginal etwas ändern - und das auch erst bei den restlichen Integrationsschritten hin zum totalen EU-Staat in einigen Jahren.
- 2. Vertragshoheit und Gerichtshierarchie
Das BVG reklamiert die Vertragshoheit und die "oberste Integrationsverantwortung" für sich - und sieht sich hierarchisch über dem EuGH.
Realität: Das widerspricht direkt dem Lissabon-Vertrag, der aber zugleich passieren darf. Keine Chance auf Verwirklichung, denn das würden sofort auch 26 andere Länder fordern und Lissabon wäre damit de facto tot. Das BVG hat nicht einmal einen völkerrechtlichen Vorbehalt für seine Interpretation des Lissabon-Vertrags gemacht! Die EU und der EuGH sind somit weiterhin frei, ihre Interpretation durchzusetzen. Das BVG hat noch nie ein Urteil des EuGH aufgehoben (noch dies je versucht). Und der EuGH hat noch nie einer EU-Richtlinie widersprochen und diese somit aufgehoben.
Die bis heute mangelhafte Existenz-Legitimation des EuGH wird (obwohl expliziter Inhalt der Schachtschneider-Klageschrift) im BVG-Urteil nicht einmal adressiert. EuGH-Entscheidungen hatten in den vergangenen Jahrzehnten immer Vorrang vor nationaler Rechtssprechung. Aktuell ist mit der Vorratsdatenspeicherung wieder eine wichtige EU-Richtlinie auf dem Prüfstand des BVG: Man darf gespannt sein, ob das BVG nach seiner Jahrzehnte-alten "Nullhistorie" einmal den Mut hat, ein klar GG-widriges EU-Gesetz zu kassieren. Dieser Lackmustest des neuen BVG-Anspruchs steht schon im Sommer an...
- 3. Grenzen des EU-Rechts
Das BVG will das Subsidiaritätsprinzip und die nationale Souveränität sichern und definiert einen unantastbaren nationalen "Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse".
Realität: Die Subsidiarität und die nationale Souveränität sind schon lange tot. 84% unserer Gesetze entstehen direkt oder indirekt in Brüssel. Wie groß unser nationaler Raum zur Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse noch ist, hat die angelsächsisch induzierte Finanzkrise mit fatalen Auswirkungen in Europa gezeigt, die ohne die unregulierte Kapitalverkehrsfreiheit (EU-Richtlinie seit 1994) nicht möglich gewesen wäre! Zudem sind die Grenzen der EU-Macht in keiner Weise institutionalisiert kontrollierbar oder gar justiziabel. Wo kein Kläger, da kein Richter.