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Der Tanz ums Goldene Kalb (1)

10.05.2000  |  Frank Müchler
Vom Tulpenwahn, dem Mississippi-Projekt und dem Südsee-Schwindel

Als ich letzte Woche abends den Kiosk um die Ecke betrat, fand ich den Ladenbesitzer in ein aufgeregtes Gespräch um den aktuellen Börsenkurs der Hightech-Aktien vertieft. Dieser war gerade an dem Tag um einen nicht unbeträchtlichen Wert gefallen. Er selbst hatte in diese Aktien auf Anraten seines Gesprächspartners und in der Hoffnung auf schnelles Geld investiert und war nun aufgrund der jüngsten Entwicklung sichtlich nervös. Aber der junge Mann beruhigte ihn und versicherte, es handele sich nur um eine kurzfristige Angelegenheit, schon bald würden die Kurse wieder ansteigen, und er werde schon zu "seinem" Geld kommen. Auf meine Frage, woher er denn diese Gewißheit nehme, bekam ich zur Antwort, das müsse so sein, diese Werte seien die Zukunft.

Vorher, am gleichen Tag, brach die Mutter eines Schulfreundes meiner Tochter ein Telefongespräch mit mir abrupt ab, weil jetzt gerade im Fernsehsender "ntv" die neuesten Börsenereignisse gemeldet würden. Darum müsse sie sich jetzt kümmern, weil es um viel Geld gehe, das sie an der Börse investiert hätten, sie müßten schließlich die arme Verwandtschaft in Pakistan mit durchziehen, und irgendwoher müsse das Geld ja kommen. Das war nun eine dumme Entschuldigung mit den armen Verwandten, denn gerade diese Familie hatte vor gar nicht langer Zeit eine große Summe Geld beim Spielen an der Börse verloren.

Eine regelrechte Zockermentalität hat sich in der Bevölkerung breitgemacht, bei der alle Beteiligten hoffen, so schnell wie möglich zu Reichtum gelangen zu können, was mit ehrlicher Arbeit so nicht möglich ist. Diese Gier nach Geld ist vollkommen irrational, was die Bemerkung "irgendwoher muß das Geld ja kommen" nur zu deutlich zeigt. Dieser ekstatische Tanz ums Goldene Kalb einer irregeleiteten Bevölkerung ist leider nichts Neues in der Geschichte der Menschheit, schon Moses hat sich darüber die Haare gerauft. Aber auch in der jüngeren Geschichte Europas finden sich für solch haarsträubendes Verhalten anschauliche Beispiele: der große Tulpenwahn, der die Niederlande 1636/37 befiel, und 1720 die große Südseeblase und der Mississippischwindel. Und immer herrschte der wahnwitzige Glaube vor, das müsse ewig so weitergehen mit dem schnellen Geld - bis die Blase platzte und sich der vermeintliche Reichtum in Nichts auflöste.

Es ist schon verwunderlich, daß die Geschichte vom holländischen Tulpenfieber über die Grenzen der Niederlande hinaus kaum verbreitet ist. Die zahlreichen zeitgenössischen Beschreibungen und Spottschriften sind bis heute leider nicht in andere Sprachen übersetzt, in den Büchern über die europäische Wirtschaftsgeschichte kommt das Tulpenfieber nicht vor, als wollte man es schamhaft verschweigen. Einzig der schottische Journalist Charles Mackay widmete diesem Abschnitt der holländischen Geschichte ein paar Seiten seines 1841 erschienenen Buches "Außergewöhnliche, populäre Illusionen und die Wahnsinnsspekulationen großer Menschenmassen".

Erst 1999 erschien ein Buch, das die Ausmaße des Tulpenwahns - der "verrücktesten Geschichte der Spekulation" - beschreibt. Und es ist sicherlich kein Zufall, daß das Buch gerade in der jetzigen Zeit geschrieben wurde, in der große Teile der Bevölkerungen der Industriestaaten, allen voran die der USA, einem Börsenwahn verfallen sind, der in der Art seiner Entwicklung und seinem Grad an Irrationalität durchaus Parallelen zum Phänomen des Tulpenwahns aufweist.

Schon in der Frühzeit der Börse, die Amsterdamer wurde 1608 gegründet, wurde es üblich, daß Spekulanten mit Anteilen handelten, die sie noch gar nicht besaßen oder für die sie noch nichts bezahlt hatten; sie hofften einfach, sie könnten zu der Zeit, wenn ihre Zahlungsverpflichtung fällig würde, mit Gewinn verkauft sein. Dies wurde - typisch für ein Volk von Seefahrern - "Hart am Wind Segeln" genannt, später wurde es dann an der Börse zum "Windhandel". Der Tulpenzwiebelhandel entwickelte sich zum ersten außerbörslichen "Windhandel", denn er fand nicht an der Börse, sondern vorrangig in den Hinterzimmern verrauchter Wirtshäuser statt.

Ursprünglich stammt die Tulpe aus dem Osten, aus den weiten Steppen und Hochtälern Zentralasiens, und kam über das osmanische Reich, wo sie von den türkischen Herrschern als heilige Blume verehrt wurde, um die Mitte des 16. Jahrhunderts nach Europa. Sie galt als exotisches Luxusgut, das sich nur die wohlhabendsten Bürger der Niederlande für ihren Garten leisteten.

Nach dem Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien und der Lossagung der Utrechter Union 1581 von den spanischen Habsburgern, bildete sich 1588 die Republik der Vereinigten Niederlande. 1602 gründeten die Holländer ihre Ostindienkompanie und durchbrachen das spanische Monopol, indem sie Handelsbeziehungen zu Ostindien aufnahmen. Der Handel mit Indien war ein lukratives Geschäft: Luxusgüter, Gewürze, chinesisches Porzellan konnten dort billig eingekauft werden. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Gütern wie Holz, Getreide oder Salz, mit denen die Niederlande vorher gehandelt hatten, war eine Ladung Gewürze ein Vielfaches wert und brachte Gewinne von bis zu 400%. Der Ostindienhandel schuf in den Niederlanden eine reiche Kaufmannsschicht. Während Arbeiter und Handwerker auf ein Jahreseinkommen von rund 300 Gulden und Bürger auf 500 bis 1000 Gulden kamen, verdiente ein mittelständischer Kaufmann 1500-3000 Gulden. Die Großkaufleute und Finanziers, die im Ostindienhandel mitmischten, verdienten bis zu 30.000 Gulden im Jahr. Regenten (hohe Politiker) und Bankiers kamen mit ihren Investitionen auf über 350.000 Gulden. Das war die Schicht, aus der sich die ersten Tulpenfanatiker rekrutierten.


Die Entstehung der Tulpen-Blase

Damals, um 1620, war die Tulpe eine ausgesprochene Rarität. Ursprünglich sollten die wenigen Tulpenzwiebeln, die es zu dieser Zeit in Holland gab, gar nicht zum Verkauf angeboten werden. Es war eher ein Spielen der Superreichen, sie im Garten zu haben und sie sich alleine anzuschauen im stolzen Bewußtsein, daß man zu den wenigen Auserwählten gehörte, die sich so etwas leisten konnten. Erst nach und nach verbreitete sich der Handel mit der Zwiebel, aber zunächst nur in der Oberschicht. 1623 wurde zum Beispiel für eine "Semper Augustus", sozusagen die Königin unter den Tulpen, die sagenhafte Summe von 12.000 Gulden für zehn Zwiebeln geboten, womit der Verkauf einer einzigen Zwiebel das obere Jahreseinkommen eines normalen Bürgers überschritt.

Anfang der 30er Jahre des 17. Jahrhunderts gab es in fast allen Städten berufsmäßige Blumenzüchter, um den steigenden Bedarf zu befriedigen, um 1633 gab es überall in den Niederlanden Tulpen zu kaufen, über 500 verschiedene Tulpensorten wurden angebaut. Weil die Züchter für ihre zahlungskräftigsten Kunden ständig neue Tulpensorten entwickeln mußten, um im Geschäft zu bleiben, brachten sie die weniger spektakulären unter's Volk - natürlich zu niedrigeren Preisen. So wurde ein stets wachsender Teil der Bevölkerung in den verlockenden Handel mit Tulpenzwiebeln hereingezogen, weil die wirtschaftliche Situation für den Großteil der Bevölkerung sehr erbärmlich war.

Trotz des Reichtums der Großkaufleute und Regenten gehörten die Niederlande zu den ärmsten Ländern Europas. Um 1630 wurde die ohnehin schon schwierige Situation der Handwerker durch die Flut der protestantischen Flüchtlinge aus dem katholischen Süden, der weiterhin von den Spaniern besetzt war, noch schwerer. Die Aussicht, das niedrige Einkommen, das gerade zum Überleben reichte, durch die Anpflanzung von Zwiebeln und deren Verkauf aufzubessern, ja vielleicht sogar ein richtig gutes Leben führen zu können, machte viele Handwerker zu Gärtnern. Wo früher Gemüse wuchs, baute man jetzt Tulpen an. Als es Anfang der 30er Jahre immer klarer wurde, daß die Nachfrage nach Tulpen und damit auch die Preise immer weiter anstiegen, bildete sich eine neue parasitäre Händlerschicht, die "Floristen", die einzig und allein mit dem Verkauf von Tulpenzwiebeln Geld scheffeln wollten. Ihre anfänglich eher vorsichtigen Investitionen warfen einen solchen Profit ab, daß immer neue Kreise jetzt versuchten, auf diese Weise ihr Glück zu machen.

Wer konnte, verschuldete sich sogar, wie z.B. die Weber, die ihre wertvollen Webstühle beliehen, um an das nötige Kapital für den Einstieg in den Tulpenhandel zu kommen. Um den Markt auszuweiten, erzeugten die Züchter eine ungeheure Vielfalt billiger Züchtungen und senkten die Verkaufsmenge, so daß auch der kleine Mann sich mit bescheidenem Einsatz an diesem Glücksspiel beteiligen konnte.

Im Sommer 1633 wechselte zum ersten Mal ein Haus für drei seltene Tulpen den Besitzer, und als das bekannt wurde, wurde ein Bauernhaus mit Umland für ein Paket Tulpenzwiebeln gegeben. 30 Jahre lang hatten Tulpenfanatiker viel Geld eingesetzt, um Tulpen zu erwerben, jetzt wurden Tulpen als Zahlungsmittel benutzt - mit einem unvorstellbaren Wert. Als die Zahl der am Tulpenhandel Beteiligten anstieg, stiegen auch die Preise der seltenen Sorten und sollten bis Anfang Februar 1637 astronomische Höhen erreichen. Am Ende war der Preisanstieg so rasant, daß der Preis einiger Zwiebeln sich innerhalb einer Woche verdoppelte oder gar verdreifachte. Der Höhepunkt des Tulpenrausches waren die beiden Monate Dezember 1636 und Januar/Anfang Februar 1637. Im ganzen Land stürzten sich viele Niederländer in den Tulpenhandel und investierten teilweise ihr gesamtes Hab und Gut in die Zwiebeln. Der steile Anstieg der Nachfrage ließ die Preise wie wahnsinnig in die Höhe schnellen, und tatsächlich machten eine kurze Zeit lang eine Menge Leute viel Geld. Den Vogel schoß ohne Zweifel die berühmteste aller Tulpen, die "Semper Augustus" ab, von der eine einzige Zwiebel im Januar 1637 den stolzen Preis von 10.000 Gulden erzielte, eine Summe, mit der man eine mehrköpfige Familie ein halbes Leben lang versorgen konnte.

Im Dezember 1636 erschien ein Flugblatt, das versuchte, den Holländern aufzuzeigen, auf welchen Wahnsinn sie sich da eingelassen hatten. Der Schreiber schilderte, welchen Gegenwert an realen physischen Gütern man für eine Tulpe im Wert von 3.000 Gulden erstehen konnte: acht fette Schweine, vier fette Ochsen, zwölf fette Schafe, 24 Tonnen Weizen, 48 Tonnen Roggen, zwei Fässer Wein, vier Fässer Bier, 2000 kg Butter, 500 kg Käse, einen silbernen Kelch, einen Ballen Stoff, ein Bett mit Matratze und Bettzeug und ein Schiff im Werte von 500 Gulden.

Aber auch die Preise der Billigsorten, die in den sogenannten Schankkollegien gehandelt wurden, stiegen ins Unermeßliche. Die Floristen trafen sich in den Hinterzimmern der Wirtshäuser. Dauerten solche Versammlungen in den Anfangsjahren höchstens zwei Stunden, reichten sie am Höhepunkt des Tulpenwahns von morgens bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages. Und da jeder Handel mit einer Runde Wein gefeiert wurde, gesellte sich nicht selten zum Tulpenrausch noch ein Vollrausch. Der Großteil der Mitglieder eines Schankkollegiums gehörte zur Arbeiterschicht, nur ein kleiner Teil waren Kaufleute oder wohlhabende Händler.

Gehandelt wurde die einfache Ware, die häufig von den frühesten Sorten abstammte. Der Pfundkorb enthielt zwischen 50 und 100 Zwiebeln, so daß der Preis der einzelnen Tulpe auch für den ärmsten Händler noch erschwinglich war. Denn der Einstieg in den Tulpenhandel war denkbar einfach, brauchte man doch für den Anfang nur etwas Geld und die Möglichkeit einer nahegelegenen Gärtnerei, um die Zwiebeln anzupflanzen.

Weil die Zahl der Beteiligten am Tulpenhandel ständig wuchs, mußte man auch über weitere Möglichkeiten der Ausweitung nachdenken, und die Niederländer zeigten sich in dieser Hinsicht ebenso erfinderisch wie die heutigen Finanzkreise, die bislang auch immer neue Möglichkeiten fanden, ihre Finanzblase am Leben zu erhalten. Woher das Geld kam (und kommt), ist ihnen schließlich egal.

Eine der Möglichkeiten für die Ausweitung des Geschäftes fand man, indem man nicht nur der Mutterzwiebel einen Wert zumaß, sondern auch den Brutzwiebeln, die später selbst einmal zu Blumenzwiebeln würden. Diese neue Idee wurde anfangs nicht so gut aufgenommen, weil man nicht garantieren konnte, daß die Tulpen aus der Brutzwiebel identisch waren mit denen, die aus der Mutterzwiebel wuchsen. Aber letztendlich siegte doch die "Risikobereitschaft" der Floristen, sprich: die Gier nach schnellem Geld. Der Handel mit den Brutzwiebeln bedeutete sogar eine doppelte Ausweitung des Geschäftes: zum einen durch die größere Menge an Zwiebeln, mit denen man handeln konnte; zum anderen durch einen weiteren Aspekt: Man hatte durch Forschungen der Botaniker herausgefunden, daß die Zwiebelpflanzen am besten wachsen, wenn man sie kurz nach ihrer Blütezeit aus dem Boden nimmt, trocknet und ohne Erde an luftigen Orten bis zum Herbst aufbewahrt. Fand deshalb der Handel mit den Zwiebeln bisher nur in den Sommermonaten Juni bis September statt, konnte diese zeitliche Beschränkung nun mit den Brutzwiebeln überwunden werden. Der Handel mit ihnen konnte schon ein paar Monate früher beginnen, wenn die überschüssigen Brutzwiebeln von der Mutterzwiebel gelöst werden konnten.




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