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Luftige Schätzungen

15.07.2012  |  Klaus Singer
Ich möchte im folgenden detaillierter auf einen zentralen Punkt im Fiskalpakt eingehen, gewissermaßen die Wurzel allen Übels. Der Fiskalpakt legt ein Defizitkriterium fest, das die Scheidelinie zwischen Sparen und Nicht-Sparen des Staates zieht: Jeder Vertragsstaat darf ein strukturelles (konjunkturbereinigtes) Defizit von nicht mehr als 0,5% des BIP aufweisen. Das Gesamtdefizit darf 3% nicht übersteigen.

Das strukturelle Defizit ergibt sich durch Subtraktion des konjunkturell bedingten Defizits vom Gesamtdefizit. Als konjunkturell bedingtes Defizit gilt die Hälfte der "Outputlücke", der Differenz zwischen tatsächlichem und potentiellem BIP (Produktionsvolumen bei Vollauslastung aller Kapazitäten).

Das Stichwort "potentielles BIP" weist schon darauf hin: Der "Potentialoutput“ kann nur geschätzt werden, indem vermutet wird, was eine Volkswirtschaft produzieren könnte, wenn die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital (Maschinen usw.) voll ausgelastet sind. Das ist bei der Kapitalseite, Maschinen, Anlagen usw. relativ gut möglich - jedes Unternehmen weiß, wie viele Einheiten in der gegebenen Fabrik produziert werden können und wie die Kapazität zu einem gegebenen Zeitpunkt ausgelastet ist.

Auf der Arbeitsseite gibt es zwar Arbeitslosenstatistiken. Aber hier spielt ein seinerzeit von Milton Friedman geprägter Begriff hinein, die sogenannte "natürliche Arbeitslosenquote". Das dieser entsprechende BIP repräsentiert den Potentialoutput. "Natürlich" legt zwar nahe, dass das entsprechende Niveau von Arbeitslosigkeit förmlich auf der Hand liegt, aber dem ist nicht so. Und so ist der Potentialoutput eine Schätzaufgabe mit großem Spielraum.

Das Konzept der “natürlichen” Arbeitslosigkeit diente und dient neoliberalen Ökonomen als zentrales Argument gegen den Keynesianismus. Wenn nämlich versucht wird, die Arbeitslosigkeit unter dieses "natürliche“ Niveau zu drücken, entsteht zunehmende Inflation, heißt es. Keynes hatte vorgeschlagen, zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mit zusätzlicher Staatsverschuldung finanzierte "Konjunkturprogramme" aufzulegen.

Je nach gewähltem Schätzverfahren, kommt man zu sehr unterschiedlichen, um nicht zu sagen, beliebigen Ergebnissen. Das zeigen folgende Beispiele.

Auf Grund des Defizitkriteriums muss Spanien nach Vorgabe der EU das Defizit von 8,5% auf 3% des BIP senken. Die EU-Kommission schätzt die Outputlücke auf nur 4,1%. Die strukturelle Verschuldung kommt somit auf rund 6,5% - das ist mehr als das zulässige Gesamtdefizit von 3%, also muss Spanien sparen. Bei bereits schrumpfender Wirtschaft beschleunigt sich die Talfahrt, das nominale BIP sinkt innerhalb von zwei bis drei Jahren um weitere (geschätzte) 10%. Dann schätzt die EU-Kommission die Outputlücke auf angenommene 6%, das konjunkturbedingte Defizit somit auf 3%. Bei einem Gesamtdefizit von 3% käme der strukturelle Saldo auf 0% (also unter 0,5%). Ziel erreicht, Heilung erfolgt, Patient tot!

Bei Spanien würde man angesichts der hohen Arbeitslosigkeit von 25% erwarten, dass die Outputlücke viel größer ist. Wenn sie nur so niedrig angesetzt wird, hat das zwei Konsequenzen: Erstens ist damit ein Großteil des spanischen Defizits strukturell und deswegen muss der Staat auch in der Rezession sparen, zweitens kann das nur bedeuten, dass die spanische Arbeitskraft viel zu teuer eingeschätzt wird.

Nach OECD beträgt die Outputlücke der spanischen Wirtschaft 6,1%, die strukturelle Verschuldung kommt danach nur auf rund 5,5%. Bei Griechenland schätzt die OECD die Lücke aktuell sogar auf 18,2%, es gäbe damit bereits jetzt einen strukturellen Budgetüberschuss von 2,0%. Die EU-Kommission sieht die Outputlücke jedoch bei 9,5% und damit das strukturelle Defizit bei 2,6%, das Defizitkriterium ist demnach also nicht erfüllt - es muss weiter gespart werden.



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