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Die tieferen Gründe der Wirtschaftskrise

07.10.2002  |  Dr. Kurt Richebächer
Wahn und Wirklichkeit der US-Wirtschaft

Es gab eine Zeit, als die Volkswirtschafter die Aufgabe hatten, nachzudenken. Dabei gilt es zu bedenken, dass die alte Generation wenig statistische Angaben zur Verfügung hatte, und schon das zwang zum Denken. Besonders unter amerikanischem Einfluss hat die Statistik so sehr um sich gegriffen und ist so überwältigend geworden, dass das Denken vollkommen aufgehört hat.

Das intellektuelle Niveau in der ökonomischen Diskussion ist heute das niedrigste seit zweihundert Jahren (vor etwas über zweihundert Jahren erschien Adam Smith mit seinem Werk «Wealth of Nations»). Die Amerikaner haben schon in den zwanziger Jahren die Theorie aufgegeben. Es gibt nicht einen grossen amerikanischen Nationalökonomen; es gibt jede Menge Nationalökonomen aus England, aus Schweden, aus Österreich ­ aber nicht einen aus Amerika.


Zaubereien mit Statistik

Nach herrschender Meinung hat die amerikanische Wirtschaft in den vergangenen Jahren eine grosse Renaissance erlebt, die Wunder der Produktivität und der Gewinne vollbracht hat. Beobachtungen zeigten aber, dass die Wunder im Grunde nur in der Statistik, nicht aber in der Wirtschaft stattgefunden haben.

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die Gewinnentwicklung der letzten Jahre ist die mieseste der gesamten Nachkriegszeit. Dabei stellt sich die Frage, wie das möglich ist. In die Schlagzeilen kommen in der Regel die Berichte der Unternehmen. Und diese Berichte sind in einem Masse frisiert, dass sie keinerlei Beziehung zur Realität haben. Die Amerikaner sind heute an dem Punkt, wo die Unternehmen sogenannte Pro-forma-Gewinne mitteilen. Dies sind errechnete Gewinne, bei denen jede beliebige Kostenart weggelassen wird. Vor allem werden Zinskosten und Abschreibungen ausgegliedert, weil sie nicht die organische Entwicklung widerspiegeln würden. Der Vodafone-Konzern machte neulich Schlagzeilen: «Gewinnanstieg 40 Prozent». Das war aber nur der «EBITDA-Gewinn», also die Einnahmen ohne Zinsen, ohne Steuern, ohne Abschreibungen, ohne Amortisationen.

Warum suchen die amerikanischen Unternehmen ständig Akquisitionen? Ihr Ziel besteht darin, Gewinne zu kaufen, die dann dem eigenen Gewinn zugeschlagen werden. Das macht man zehn Mal im Jahr. Dann wird extrapoliert, was zu wunderschönen Gewinnkurven und zur Bewunderung der ungeheuren Rentabilität der amerikanischen Wirtschaft führt. Störend ist, dass an diesem Vorgehen keine Kritik geäussert wird.

Im weiteren ist die amtliche Sozialprodukt- und Einkommensstatistik zu beachten. Im monatlichen Rhythmus werden, aufgeteilt nach zwanzig Branchen, ausführliche Zahlen veröffentlicht, nach denen sich die Fachleute richten. Tatsache ist, dass die amerikanischen Gewinne in der Rezession von 1990 bis 1994 scharf angestiegen sind. Mehr als die Hälfte dieses Gewinnanstiegs von insgesamt 66 Prozent resultierte aus Zinssenkungen. Der Rest ergab sich aus sinkenden Abschreibungen, die entstanden, weil die amerikanische Wirtschaft Ende der achtziger Jahre aufgehört hatte zu investieren. Bewirkt wurden sinkende Abschreibungen, sinkende Zinsen und explodierende Gewinne, allerdings hörte der Gewinnanstieg bereits 1994 auf.


Miese Gewinnentwicklung

Bis zum Jahr 2000 stiegen die Gewinne gemäss amtlichen Angaben nur noch um 22 Prozent. Das heisst, dass die Amerikaner in den fünf, sechs Jahren zuvor, also während einer «Hochkonjunktur», die mieseste Gewinnentwicklung aller Zeiten auswiesen. In den Jahren 1998/99 gab es eine leichte Besserung. Aber seit dem dritten Quartal vergangenen Jahres erleben wir den steilsten Gewinnsturz aller Zeiten ­ im übrigen auch bei den Gewinnen, welche von den Unternehmen veröffentlicht werden. Denn diese Unternehmen bildeten in der Vergangenheit aus ihren Akquisitionen gewaltige Aktivposten in Form von «Goodwill». Alle neu erworbenen Anlagen wurden zu überhöhten Preisen aufgekauft. Diese Beträge wurden in der Bilanz untergebracht, indem man sie auf der Aktivseite als immer grössere «Goodwill»-Posten einsetzte.

Da die Gewinne jetzt aber verschwinden, muss der «Goodwill» abgeschrieben werden. So hat der Nortel-Konzern 49 Milliarden Dollar «Goodwill» abgeschrieben, andere Unternehmen Beträge von zehn und mehr Milliarden Dollar. Wer sich um die Wahrheit bemüht, erhält Kenntnis von diesen fast unglaublichen Zahlen ­ nur bemüht sich kaum jemand um diese Wahrheit. Produktivitäts- und Gewinnwunder sind in unseren Vorstellungen eng miteinander verkoppelt. Das eine Wunder fand so wenig statt wie das andere. Als erstes fiel auf, dass immer die Rede war von Zahlen über einen gewaltigen Investitionsboom. In den letzten Jahren lag die Investitionsquote der Amerikaner bei 35 Prozent der Wachstumsrate. Auf der anderen Seite verzeichnete man keine Ersparnisbildung, viel eher dominierte die zusammenbrechende Ersparnisbildung. Für den Fachmann ist es ein Unding, gleichzeitig einen Investitionsboom und zusammenbrechende Ersparnisse vorzuweisen. Denn Investitionen sind nur möglich, wenn andere sparen und dadurch die Ressourcen für Investitionen freigeben. An diesem Widerspruch nahm niemand Anstoss, weil theoretisches Denken völlig abhanden gekommen ist.

Als nächstes fallen die Computer-Investitionen auf. Oft wird argumentiert, gewaltige Computer-Investitionen würden Produktivität bewirken. Die nominale Statistik für die Jahre 1997 bis 2000 wies Computer-Investitionen von amerikanischen Firmen im Betrag von 34 Milliarden Dollar aus. Das ist gar nichts für eine Volkswirtschaft mit einem BIP von 10000 Milliarden Dollar. In der Realrechnung sind allerdings nicht 34, sondern 214 Milliarden Dollar aufgeführt. Im Klartext heisst das, dass in der Realrechnung aus einem für Computer ausgegebenen Dollar fast deren sieben wurden. Wie ist das möglich?


Statistischer Investitionsboom

Die Amerikaner haben in den achtziger Jahren beschlossen, bei der Berechnung der Investitionsrate den Faktor «Qualitätsverbesserungen» immer stärker zu berücksichtigen. Bezüglich der Computer war dies seit Jahren im Gang, aber ab 1995 begann eine förmliche Explosion hinsichtlich der Computer-Leistungen. Und mit der Computer-Leistung explodierte die Berechnung der Investitions- und Produktionszahlen für Computer: Sie versiebenfachte sich. Aus 34 Milliarden wurden in der Statistik 214 Milliarden. Diese 214 Milliarden machten 20 Prozent des realen Sozialprodukt-Wachstums aus ­ ein fetter Posten.

Der zweite Schlag erfolgte vor zwei, drei Jahren. Da beschlossen die amerikanischen Statistiker, Software-Ausgaben seien eigentlich nicht Kosten, sondern Investitionsausgaben. Daraus resultierten weitere 70 Milliarden für die Sozialproduktrechnung. Dabei ist zu bedenken: Kosten gehen nicht ins Sozialprodukt; fürs Sozialprodukt werden nur Endausgaben erfasst. Aber als Investitionsausgaben gehen sie ins Sozialprodukt. Insgesamt ergab sich aus dieser Praxis inklusive Kapitalisierung der Software ­ auf dem Papier ­ ein Investitionsboom von 25 Prozent ­ ein volles Prozent des Sozialprodukts. Im Jahre 1995 empfahl zusätzlich eine Kommission, bei der Berechnung der Inflationsraten etwaige Qualitätsverbesserungen stärker zu berücksichtigen. Das ergab komplizierte Veränderungen. Insbesondere wurden die Mieten plötzlich viel niedriger. Auf diese Weise wurde das Sozialprodukt um weitere 0,8 Prozent erweitert.

Die gesamthafte Beurteilung der Vorgänge lässt den Schluss zu, dass der ganze Investitionsboom nicht wirklich, sondern nur in Form statistischer Veränderungen stattgefunden hat.




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