Der erfundene "Boom" der 90er Jahre
08.10.2002 | Dr. Kurt Richebächer
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"Gewinnwunder" wird zur GewinnkatastropheDie schlimmsten Abwärtskorrekturen gab es jedoch bei den Unternehmensgewinnen. Das ehemalige Gewinnwunder des neuen Paradigmas erwies sich am Ende als eine für eine boomende Wirtschaft beispiellose Gewinnkatastrophe. Bei der Beurteilung von Unternehmensgewinnen in den USA mußte und muß man immer zwischen zwei Maßen unterscheiden. Das eine sind die von den Unternehmen berichteten Gewinne, und das andere sind die Gewinne, welche die Regierungsstatistiker aus ihren makroökonomischen Berechnungen herauslesen.
Das angebliche Gewinnwunder, das von der Wall Street mit astronomisch steigenden Aktienkursen gefeiert wurde, fand ausschließlich in den massiv manipulierten Profitzahlen der Unternehmen statt. Im krassen Gegensatz zu diesen Zahlen zeigen die offiziellen Statistiken seit Jahren Gewinne, die gegenüber früheren Geschäftszyklen sehr schlecht aussehen. Diesen Zahlen zufolge sind die Unternehmensgewinne schon seit 1997 nicht mehr angestiegen
Ich habe auf diesen Zusammenhang in meinem Nachrichtenbrief seitdem immer wieder hingewiesen. Aber was noch schlimmer ist, auch diese bereits schlechten Zahlen mußten inzwischen noch weiter nach unten korrigiert werden. Das Endergebnis ist, daß das Gewinnverhalten in den letzten Jahren das schlechteste der gesamten Nachkriegszeit war. Die Gewinne fielen bereits, als die Wirtschaft noch boomte. So etwas hat es niemals zuvor gegeben.
Den ursprünglichen Zahlen zufolge stiegen die Unternehmensgewinne im Nichtfinanz-Bereich zwischen 1977-2000 von 504 Mrd. Dollar auf 578 Mrd. Dollar oder um 4,5% jährlich. Die jüngsten revidierten Zahlen zeigen hingegen einen Rückgang von 504 Mrd. Dollar auf 423 Mrd. Dollar. 2001 sanken sie noch weiter auf 333 Mrd. Dollar.
Dies ist in zweierlei Hinsicht eine miserable Gewinnentwicklung: Erstens begann der Rückgang bereits auf dem Höhepunkt des Booms, und zweitens ist der Niedergang nach dem Boom ungewöhnlich steil.
Von 1997 bis zum ersten Quartal dieses Jahres brachen die Gewinne um 42% ein. Da das BIP in dieser Zeit um 23% wuchs, sind die Gewinne im Verhältnis zum BIP und zum Nationaleinkommen buchstäblich kollabiert.
Was diese Zahlen aber noch nicht enthüllen, ist der katastrophalste Aspekt dieser Gewinnkrankheit, nämlich die extrem ungleiche Verteilung auf verschiedene Wirtschaftssektoren. Am schlimmsten wurde der produzierende Sektor getroffen: Hier brachen die Gewinne seit 1997 um 67% ein. Der Einzelhandel dagegen erlebte aus offensichtlichen Gründen einen Anstieg der Gewinne um 27%.
1997 betrugen die Einnahmen des produzierenden Gewerbes 195,5 Mrd. Dollar, gegenüber 63,9 Mrd. Dollar im Einzelhandel. Anfang 2002, kaum fünf Jahre später, waren die Gewinne in der Industrie auf 68,9 Mrd. Dollar geschrumpft und im Einzelhandel auf 81,4 Mrd. Dollar gestiegen (beide Zahlen auf Jahresbasis).
Es sollte offensichtlich sein, daß diese dramatische Umkehrung der Rentabilität beider Sektoren weitreichende Auswirkungen auf die Investitionspolitik hatte. Während der rentable Einzelhandel im Verhältnis zum längerfristig aufrechterhaltbaren Wachstum der Verbraucherausgaben stark überinvestierte und überexpandierte, investierte der weniger rentable Industriesektor viel zu wenig in Fabrikation und Anlagen. Genauer gesagt, er investierte zuviel in die Herstellung von Hochtechnologie-Ausrüstung, aber zuwenig in die Produktion traditioneller Industrieanlagen.
Einbruch der Investitionen
Was bleibt von der paradigmatischen amerikanischen "Neuen Wirtschaft" nach den diversen statistischen Bereinigungen noch übrig? Wie bereits erwähnt, war das durchschnittliche BIP-Jahreswachstum das niedrigste in der gesamten Nachkriegszeit. Das schlimmste ist aber die verheerende Gewinnentwicklung. Sie ist schlicht der Hauptgrund für den verheerenden Einbruch der Unternehmensinvestitionen.
Tatsächlich spiegelte der amerikanische "Wirtschaftsboom" der vergangenen Jahre im Gegensatz zu einer verbreiteten Auffassung keinen Investitionsboom wider. Er war hauptsächlich angetrieben vom größten Verbraucherkredit- und Kaufrausch aller Zeiten. Dies zeigt sich am auffälligsten bei dem Anstieg des Anteils der Konsumausgaben am BIP von normalerweise 67% auf 82%.
Ebenfalls entgegen einer verbreiteten Auffassung ist der Anteil der Unternehmensinvestitionen am BIP gesunken. Hinsichtlich langfristigen Wirtschaftswachstums und Gewinnschöpfung zählen vor allem die Nettoinvestitionen, d.h. Bruttoinvestitionen abzüglich Abschreibungen. Da Investitionen in Hochtechnologie allgemein kurzlebig sind, implizierten diese rasch ansteigende Abschreibungen zulasten der Gewinne. Die Nettoinvestitionen waren schon lange eher gering. Aber im vergangenen Jahr erreichten sie ein Rekordtief von kaum noch 2,5% des BIP.
Nur wenige erkannten, daß der Verbraucherkredit- und Kaufrausch eine schwere Gewinn- und Investitionskrise verhüllte. Angesichts der entscheidenden Bedeutung von Gewinnen und Kapitalbildung für das langfristige Wirtschaftswachstum sind die tieferen Ursachen mit Sicherheit für die amerikanische Wirtschaft die wichtigste Frage überhaupt.
Die Beantwortung dieser Frage beginnt meiner Ansicht nach am besten mit der Wiederholung einer Binsenweisheit über Gewinne. Betrachtet man die Privatwirtschaft im ganzen, sind sie, allgemein gesprochen, die Differenz zwischen Unternehmenseinnahmen und -ausgaben.
Wenn man an Profitschöpfung denkt, machen viele Menschen den Fehler, diese nur aus der Sicht eines einzelnen Unternehmens zu beurteilen. Sicherlich kann ein Unternehmen seinen Gewinn durch Kostensenkung steigern. Aber wenn viele oder sogar alle Unternehmen diesem Rezept folgen, ist der Gesamteffekt genau das Gegenteil, weil die Ausgaben des einen Unternehmens die Einnahmen eines anderen Unternehmens sind. Für die Wirtschaft insgesamt sind Ausgabensenkungen im Endeffekt auch Einnahmeausfälle.
Kostensenkungsmaßnahmen aller Art wurden in den letzten Jahren zur bevorzugten Strategie amerikanischer Unternehmen auf der Jagd nach schneller Gewinnsteigerung. Dies ist kläglich gescheitert, weil es aus den genannten Gründen in der Summe keinen Sinn machte.
Ebenso fehlgeleitet war aus dem gleichen Grund auch die Manie der Fusionen und Übernahmen. Für das einzelne Unternehmen mag dies ein wunderbares Mittel erscheinen, kurzfristig den Gewinn zu steigern, verglichen mit der quälend langsamen Gewinnschöpfung durch Neuinvestitionen. Aber in der Summe hat es wiederum völlig versagt. Das mußte es, weil es dem gleichen logischen Trugschluß aufsaß, daß das, was für ein einzelnes Unternehmen vorteilhaft aussieht, auch für das Ganze vorteilhaft sein müsse.
Bei der Fusions- und Übernahmemanie ging es um astronomische Summen, welche die Aktienkurse nach oben trieben, aber der Nachteil dieser Geldströme ist, daß sie nichts zu den Unternehmenseinnahmen und dementsprechend auch nichts zu den Unternehmensgewinnen beitragen. In dem Maße, wie die Fusions- und Übernahmestrategien zulasten neuer Investitionen gingen - was mit Sicherheit der Fall war - , schmälerten sie mit Sicherheit die Gewinne.
Dollar-Sturz steht bevor
Immer noch gesamtwirtschaftlich betrachtet, bilden in der kapitalistischen Wirtschaft regelmäßige Investitionen die größte und wichtigste Profitquelle. Der hauptsächliche Grund dafür ist die Tatsache, daß steigende Investitionen die Gesamtheit der Unternehmenseinnahmen steigert, während Ausgaben erst getätigt werden, wenn die erste Abschreibung erfolgt.
Volkswirtschaften mit hohen Investitionen sind in der Regel hochprofitabel, Volkswirtschaften mit hohem Verbrauch dagegen in der Regel weniger profitabel.
Seit den 20er Jahren ist die amerikanische Volkswirtschaft im Kern eine konsumorientiert Wirtschaft, in der Verbraucherkredit eine Schlüsselrolle bei der Nachfrage spielt. Aber dies hat sich in den letzten Jahren noch dramatisch verschlechtert - mit verheerenden Folgen für die Gewinne. Der Hauptgrund dafür ist, daß sich ein rasch wachsender Anteil der Binnennachfrage an ausländische Produzenten richtete und deren Gewinne erhöhte, wie das explodierende Handelsdefizit der USA zeigt.
Damit die Gewinne wieder steigen, ist eine Kombination aus höheren Investitionen und höherem Verbrauch nötig. Keines von beiden ist jetzt in Sicht oder machbar. Angesichts eskalierender Verluste und extrem niedriger Einkommenszuwächse ist die wahrscheinlichste Veränderung auf der Nachfrageseite eine Schwächung der Verbrauchernachfrage. Die Immobilienwerte haben sich besser gehalten, was es den Verbrauchern ermöglichte, ihre Wertpapieranlagen in Immobilien zu verlagern. Aber es gibt gute Gründe für die Annahme, daß auch der Eigentumszyklus vor einer Wende steht.
Aus meiner Sicht bewegt sich die amerikanische Wirtschaft unvermeidlich auf eine anhaltende Rezession im japanischen Stil zu. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Ländern: Japan ist ein Überschußland, während die USA ein Defizitland mit einem immensen Zahlungsbilanzdefizit und einer astronomischen Auslandsverschuldung sind. Da die amerikanische Wirtschaft weiter schrumpft, wird es über kurz oder lang eine Flucht aus dem Dollar geben.
Ein kommender wahrscheinlicher Dollar-Kollaps ist zweifellos die größte Gefahr für die amerikanischen Finanzmärkte und für die bedauernswerten ausländischen Dollarinvestoren, die insgesamt Dollaranleihen in der Höhe von mehr als neun Billionen Dollar halten. Das einzige, was den Dollar noch von seinem "jüngsten Tag" trennt, ist die falsche Hoffnung auf einen bevorstehenden Aufschwung.
© Dr. Kurt Richebächer (9/2002)
Quellen: Neue Solidarität bzw. Elliott-Waves-Forum