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Interview mit Jakub Bożydar Wiśniewski: Philosophie und (Un)gesunder Menschenverstand

10.10.2022  |  Claudio Grass
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Claudio Grass: Wenn man sich die letzten paar Jahrhunderte der Entwicklung unserer westlichen Zivilisation ansieht, würden viele behaupten, dass es einen Punkt gab, wahrscheinlich erst vor kurzem, an dem wir den intellektuellen, politischen und sozialen Fortschritt verlangsamt haben, zum Stillstand gekommen sind und dann begonnen haben, den Kurs umzukehren. Fast so, als hätten wir vergessen, was die Aufklärung uns gelehrt hat. Würden Sie dieser Einschätzung zustimmen und was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen für dieses Phänomen?

Jakub Bożydar Wiśniewski: Ich stimme dieser Einschätzung grundsätzlich zu. Eine zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach den Ursachen des fraglichen Phänomens könnte eine ganze Reihe von Büchern füllen, daher fällt meine Antwort hier notwendigerweise sehr kurz aus.

Erstens institutionalisiert das gegenwärtig vorherrschende gesellschaftspolitische System, Bastiats "große Fiktion, durch die jeder bestrebt ist, auf Kosten aller anderen zu leben", Neid, Parasitentum, Kurzsichtigkeit und andere Eigenschaften, die dem beschleunigten Verbrauch des über Jahrhunderte angesammelten zivilisatorischen Kapitals förderlich sind. Zweitens verschärft die neomarxistische Unterwanderung der großen Bildungs- und Kultureinrichtungen diese parasitären Tendenzen, indem sie eine permanente Atmosphäre des unauslöschlichen Ressentiments schafft.

Drittens, in Kombination mit den beiden oben genannten Faktoren, führen die modernen Technologien - die an sich neutral sind - zu einer weiteren Infantilisierung der Gesellschaften, indem sie ihre Aufmerksamkeitsspanne erheblich verkürzen.

Schließlich könnte die Erosion des Bewusstseins für die transzendentale Dimension der Realität, die als primärer Anker der natürlichen Ordnung verstanden wird, alle oben genannten Phänomene noch verschärft haben.


Claudio Grass: Was sind Ihrer Meinung nach und in einem "realen" Sinne die größten Probleme oder intellektuellen Irrtümer, die unsere heutigen Gesellschaften daran hindern, einen Zustand von Harmonie, Wohlstand und Frieden zu erreichen?

Jakub Bożydar Wiśniewski: In Bezug auf die in meiner Antwort auf die vorhergehende Frage genannten Themen würde ich sagen, dass zu den schädlichsten intellektuellen Irrtümern und den daraus resultierenden moralischen Problemen die folgenden gehören:

1) die Annahme, dass man jemals legal dazu berechtigt ist, auf Kosten anderer zu leben (abgesehen von Fällen gerechter Wiedergutmachung), 2) die Überzeugung, dass man auf die eine oder andere Weise etwas umsonst bekommen kann, 3) der Glaube, dass es keine natürliche Ordnung der Realität gibt, die man respektieren muss, wenn man ein gedeihliches Leben führen will, 4) die Erwartung, dass rein materieller und technologischer Fortschritt autark und nachhaltig ist, selbst wenn der zugrunde liegende soziale, kulturelle und philosophische Rahmen stark ausgehöhlt ist.


Claudio Grass: Es gibt eine anhaltende Debatte über die Beziehung zwischen Wirtschaft und Ethik, deren praktische Manifestationen wir heute in Form von umweltorientierten Regierungspolitiken, aggressiven Steuersystemen, wie zum Beispiel "Friss die Reichen", oder im Rückgrat der meisten westlichen Sozialsysteme sehen. Was ist Ihre eigene Kritik an dieser Beziehung, wie sie heute besteht, und was wäre Ihrer Meinung nach der ideale Zustand?

Jakub Bożydar Wiśniewski: Ich kritisiere diese Beziehung in zweierlei Hinsicht. Erstens beruht das betrachtete Verhältnis auf der logisch fehlerhaften Annahme, dass normative Ansprüche die Gesetze der Wirtschaft außer Kraft setzen können. Zu den vielfältigen Erscheinungsformen dieses Irrtums gehört Politik, die darauf abzielt, die Kapitalknappheit zu beseitigen, sich aus Depressionen herauszukaufen, das Wirtschaftswachstum zu stärken, indem man seine Grundlagen angreift, usw.

Und zweitens sind die fraglichen normativen Ansprüche auch auf rein ethischer Ebene zutiefst fehlerhaft, da sie Neid, Begehrlichkeit, Verantwortungslosigkeit und andere Eigenschaften fördern, die von praktisch allen "klassischen" ethischen Traditionen aufs Schärfste verurteilt werden und einer robusten und konsistenten wirtschaftlichen Entwicklung entgegenstehen.

Die ideale Situation in dieser Hinsicht wäre also eine, in der die Gesellschaft als Ganzes 1) den Unterschied zwischen dem, was logisch möglich ist, und dem, was normativ wünschenswert ist, und 2) das Ausmaß, in dem die übliche Wohlfahrtspolitik auf nichts anderes als die Institutionalisierung des Lasters hinausläuft, klar versteht. Wie bereits erwähnt, könnte eine naturrechtlich orientierte Bildung diesen Zustand zumindest bis zu einem gewissen Grad korrigieren.


Claudio Grass: Wie beurteilen Sie angesichts Ihres akademischen Hintergrunds in Philosophie und Politikwissenschaft die heutigen geopolitischen Spannungen? Glauben Sie, dass Konflikte und Gewalt immer unvermeidlich sind, zumindest zeitweise, oder gibt es einen Weg, wie wir alle, trotz unserer Unterschiede, friedlich zusammenleben können?

Jakub Bożydar Wiśniewski: Konflikte und Gewalt mögen zwar unumgänglich sein, da wir nicht in einer Welt voller Heiligen leben, aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass in einer staatsähnlichen Welt die Anzahl und Intensität brutaler, langwieriger Konfrontationen besonders hoch ist, weil die Kriegsparteien die Kosten ihrer feindlichen Aktivitäten auf andere abwälzen können.

Dies gilt insbesondere in einem Umfeld des Rechtspositivismus, in dem private Eigentumsrechte als unscharf und nach Belieben neu zuordenbar behandelt werden und daher ihre wesentliche Funktion der Lösung von Konflikten um knappe Ressourcen nicht konsequent erfüllen können. Randolph Bournes Feststellung, dass "Krieg die Gesundheit des Staates ist", erscheint in diesem Zusammenhang besonders lehrreich.


Claudio Grass: Es gibt die weit verbreitete optimistische Ansicht, dass wir als Menschen uns seit Jahrhunderten auf dem Weg zur individuellen Freiheit befinden. Aber andererseits, wenn diese Sichtweise zuträfe, dann dürften wir nicht das Ausmaß an öffentlicher Unzufriedenheit und Wut erleben, das wir heute gegenüber den Regierungen und der "Elite" - wie auch immer man es bezeichnen mag - verspüren. Sind wir Ihrer Einschätzung nach wirklich auf dem richtigen Weg in eine strahlende, freie Zukunft oder müssen wir noch wichtige Hürden überwinden?

Jakub Bożydar Wiśniewski: Ich glaube nicht, dass wir auf dem richtigen Weg in eine strahlende, freie Zukunft sind, da der größte Teil des philosophischen, ethischen, kulturellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Wissens über die unabdingbaren Voraussetzungen einer freien und wohlhabenden Gesellschaft von der Allgemeinheit weitgehend vergessen wurde.

Es gilt zu hoffen, dass die gegenwärtige ideologische Dreistigkeit und zerstörerische Willkür der selbsternannten "Elite" in dieser Hinsicht als letzter Weckruf dient und die Gesellschaft insgesamt zu einer beschleunigten Wiederentdeckung dieses Schatzes an zivilisatorischer Weisheit antreibt, zumal er in der heutigen Zeit allgemein zugänglich ist. Alles in allem ist die Aufgabe, die vor uns liegt, gelinde gesagt, gewaltig, aber das gilt auch für die Werte, die wir gewinnen oder verlieren können.


© Claudio Grass
www.claudiograss.ch


Dieser Artikel wurde am 28.09.2022 auf claudiograss.ch veröffentlicht und exklusiv für GoldSeiten übersetzt.

Hinweis Redaktion: Herr Grass ist Referent der diesjährigen Internationalen Edelmetall- und Rohstoffmesse, die am 4. & 5. November 2022 in München stattfindet.


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