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Interview mit Vaclav Klaus: "Keynes ist der Gewinner des Tages, nicht Milton Friedman."

20.11.2022  |  Claudio Grass
Vielen von uns, egal wie gut bewandert in Geschichte, politischen Angelegenheiten oder sozioökonomischen Fragen, können die gegenwärtigen Bedingungen im Westen und insbesondere in Europa mitunter wie die Handlung eines schlechten Films erscheinen. Oft heißt es, die Geschichte wiederhole sich nicht, aber sie reime sich, und das, was wir heute erleben, ist ein gutes Beispiel dafür. Dennoch hätte man erwartet, dass zumindest einige derjenigen, die für die "großen Entscheidungen" verantwortlich sind, etwas aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hätten - wenn schon nicht aus den Fehlern ihrer Vorgänger, dann doch zumindest aus ihren eigenen.

Die derzeitige politische Entwicklung, die lediglich eine Beschleunigung des Trends der letzten Jahrzehnte hin zu einer weiteren Zentralisierung und Konzentration der Macht in den Händen einiger weniger "Auserwählter" darstellt, ist nun eindeutig in eine besonders gefährliche Phase eingetreten. Die gezielte Entmachtung des Einzelnen, die Infantilisierung der Politik, die Unterdrückung des freien Meinungsaustauschs und die Dämonisierung Andersdenkender haben unsere Gesellschaften und unsere Volkswirtschaften an den Rand ihrer Belastbarkeit gebracht.

In der Ukraine tobt ein echter Krieg mit zahllosen direkten und indirekten Opfern, eine Wirtschaftskrise, wie es sie lange nicht gegeben hat, macht den Arbeitnehmerhaushalten zu schaffen, und der "unsichtbare Dieb", die Inflation, vernichtet alles, was von der Mittelschicht übrig geblieben ist, und zwingt die einstigen Spender der Tafeln, zu deren Nutzern zu werden. Dabei scheint niemand die Schuld dort zu suchen, wo sie wirklich liegt.

Über Überlegungen und Fragen wie diese sprachen wir kürzlich mit dem ehemaligen Präsidenten der Tschechischen Republik, Prof. Ing. Václav Klaus. In dem folgenden Interview gibt er viele Denkanstöße und schöpft dabei aus seiner eigenen umfangreichen Erfahrung in der Politik in den schwierigsten Zeiten seit Menschengedenken und aus seinem tiefen Verständnis für Geopolitik, Wirtschaft und die menschliche Natur selbst.



Claudio Grass: Obwohl man argumentieren kann, dass sich Europa seit mindestens zehn Jahren in einer Krise befindet, kann man doch feststellen, dass es dieses Mal anders ist. Es herrscht ein echter Krieg vor der Haustür, und jeder zahlt in der einen oder anderen Form den Preis dafür, nicht nur die direkten Kontrahenten. Russlands Vormarsch ist im Wesentlichen zum Stillstand gekommen, während die Risse in der europäischen Wirtschaft und im sozialen Gefüge von Tag zu Tag größer werden. Wie lange kann das Ihrer Meinung nach noch so weitergehen, und was sind Ihre größten Befürchtungen hinsichtlich der Fortsetzung dieses Konflikts?

Václav Klaus: Ich stimme zu, dass es jetzt anders ist. Die derzeitige Krise ist viel tiefgreifender als die Situationen, die wir (oder die Politiker) in der Vergangenheit leichtfertig als "Krisen" bezeichnet haben. Sie ist das Ergebnis einer einzigartigen Kombination von Faktoren und Ursachen. Einige von ihnen sind direkt sichtbar und sorgen für Schlagzeilen, andere sind unsichtbar und werden daher nicht ausreichend offengelegt oder besprochen.

Die erste Gruppe von Faktoren besteht aus Einzelereignissen, während die zweite Gruppe aus langsamen, schrittweisen Veränderungen des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systems besteht. Sie sind statistisch nicht messbar. Niemand kann sie sehen, weil sie in kleinen Schritten ablaufen. Dennoch ist es diese zweite Gruppe von Entwicklungen, die besorgniserregender ist.

Der Krieg, die Energiekrise und die Massenmigration machen Schlagzeilen, aber systemische Veränderungen nicht. Ich befürchte, dass wir nicht wahrnehmen, wie weit wir uns bereits von freien Märkten und politischer Demokratie entfernt haben.


Claudio Grass: Wie wir es bei jedem Konflikt erleben, laufen die Propagandamaschinen auf Hochtouren, und Angstkampagnen verbreiten Panik und Spaltung in der Bevölkerung. Wenige Wochen nach Beginn dieses Krieges wurde und wird seitdem in zunehmendem Maße ein pauschaler Hass auf "den gesamten Westen" oder auf "alle Russen" propagiert. Wie beurteilen Sie solche kollektivistischen Ansichten?

Václav Klaus: Manchmal unterschätze ich zu Unrecht die Rolle der Propaganda, weil ich glaube, dass ich gegen sie immun bin, da ich nicht fernsehe und von sozialen Netzwerken abgeschottet bin. Ich gebe zu, dass das eine falsche Einstellung ist.

Direkte Propaganda ist die eine Sache, aber die allgemeine Einseitigkeit und Voreingenommenheit der Medien ist noch viel schlimmer. Was wir jetzt erleben, ähnelt dem, was wir das letzte Mal in den 1950er und 1960er Jahren erlebt haben. Ich verehre George Orwell, ich halte ihn für ein Genie und sein Buch "1984" für eine historische Meisterleistung. Aber ich war immer gegen die hyperbolische und überdramatische Verwendung von Orwellschen Aphorismen zur Beschreibung der realen Welt. Ich fürchtete, die Situation oder meine Feinde und Gegner zu trivialisieren. Das ist jetzt anders. Orwell ist direkt anwendbar geworden.


Claudio Grass: In Europa mehren sich die Rufe nach einem "Marshall-Plan" für die Ukraine, am lautesten fordern dies u. a. der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen. Der Wiederaufbau der Ukraine wird nach Schätzungen der Weltbank rund 350 Milliarden Dollar kosten. Glauben Sie, dass es angesichts der Ergebnisse des ursprünglichen Marshall-Plans eine gute Idee wäre, ihn jetzt zu wiederholen?

Václav Klaus: Als Wirtschaftswissenschaftler glaube ich nicht an Marshall-Pläne im Allgemeinen und an den Marshall-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg im Besonderen. Die Bedeutung des ursprünglichen Plans wurde propagandistisch überbewertet.

Ich kenne Studien, die seine untergeordnete Rolle belegen. Der Wiederaufbau Europas nach dem Krieg war das Werk von Ludwig Erhard, nicht von George Marshall. Die Rolle der Auslandshilfe ist von Peter Bauer, Deepak Lal und anderen ausführlich dargelegt worden. Ausländische Hilfe erfreut den Geber mehr als den Empfänger. Ich sehe es jetzt in den Augen der tschechischen Politiker. Es ist nicht ihr eigenes Geld, das sie verschenken.


Claudio Grass: Während der Krieg die Aufmerksamkeit der Medien und die politischen Reden dominiert, gibt es noch viele andere Probleme und Bedrohungen, mit denen die Europäer konfrontiert sind, - und die meisten davon waren schon vorher da, aber niemand hat sie wirklich beachtet. Die Inflation ist das gravierendste dieser Probleme und zwingt unzählige Haushalte zu unmöglichen Entscheidungen. Die westlichen Politiker schieben alles auf "Putins Krieg", aber glauben Sie, dass insbesondere die Geld- und Finanzpolitiker in der Eurozone selbst Verantwortung übernehmen müssen?

Václav Klaus: Ich halte die Inflation für das wichtigste Problem dieser Tage. Es geht nicht nur um Putin, sondern um den Green Deal und vor allem um die inflationäre Geld- und Fiskalpolitik, die nach der Rezession 2008-2009 zur "Normalität" wurde.

Die quantitative Lockerung und Null-(oder Negativ-)Zinssätze in der Geldpolitik der Zentralbanken und die Schuldenfinanzierung in der Finanzpolitik der Regierungen haben ein makroökonomisches Ungleichgewicht geschaffen. Wir leben in einer inflationären Umgebung und können diese nicht ohne einen grundlegende Veränderungen in der Geld- und Finanzpolitik beseitigen.

Zu meinem großen Bedauern ist Keynes der Gewinner des Tages, nicht Milton Friedman. Das habe ich nicht erwartet, aber es ist die neue Realität. Friedman, nicht Keynes, war mein Held in den dunklen Tagen des Kommunismus, und es ist bitter, dass in den hellen Tagen der "schönen neuen Welt" der EU und der "liberalen Demokratien" Keynes wieder auf dem Podest steht.


Claudio Grass: In der EU wurden viele fehlgeleitete politische Maßnahmen ergriffen, die die Öffentlichkeit spalteten und schließlich der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt großen Schaden zufügten, von der Einwanderung bis hin zur "grünen Agenda". Im Laufe der Jahre gab es zahlreiche Proteste, aber es hat sich, wenn überhaupt, nur wenig geändert. Erwarten Sie, dass die Wut der Öffentlichkeit dieses Mal heftiger und effektiver sein wird, da immer mehr Menschen zu kämpfen haben, Essen auf den Tisch zu bringen?

Václav Klaus: Die EU-Politik ist absolut falsch und daher schädlich. Sie spielen auf mögliche Proteste an - ich sehe keine. Europa und der gesamte Westen marschieren nach links, in Richtung Kollektivismus, in Richtung Staatsinterventionismus. Wenn es Proteste gibt, dann richten sie sich gegen den Markt.

Es gibt praktisch keine nennenswerten Proteste gegen das europäische System des massiven Staatsinterventionismus, und die bestehenden Proteste können nichts ändern. Es herrscht zwar Unzufriedenheit, aber es gibt keine wirklichen Proteste. Die Menschen glauben immer noch an die Möglichkeit, das Funktionieren des bestehenden Systems zu verbessern, sie nennen es immer noch Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie. Dies ist jedoch keine korrekte Interpretation der aktuellen Situation.


Claudio Grass: Sie haben im Kommunismus gelebt und direkt erlebt, wie der Staat Angst einsetzt, um die Bevölkerung zu manipulieren und zu kontrollieren, um abweichende Meinungen und öffentliche Diskussionen mundtot zu machen und um eine Politik durchzusetzen, die kein frei denkender, rationaler Mensch akzeptieren würde.

Auch wenn unsere Politiker heute darauf beharren, dass es in unseren westlichen Demokratien um Freiheit geht, wurden zentrale Werte wie Redefreiheit oder individuelle finanzielle Souveränität im Laufe der Jahre immer mehr eingeschränkt. Glauben Sie, dass diese Entwicklung umkehrbar ist, oder sind wir dazu verurteilt, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, die Sie miterleben mussten?

Václav Klaus: Sie ist zweifellos umkehrbar, aber ich sehe niemanden, der bereit und in der Lage ist, dies zu tun. Wir benötigen nicht nur kleine Reformen. Das System muss grundlegend umgestaltet werden, und ich bin mir nicht sicher, ob die Wähler daran interessiert sind.

Veränderungen können kommen, aber nicht in absehbarer Zeit. Ich weiß, es klingt pessimistisch, aber ich denke, dass eine Veränderung nicht meine Aufgabe oder die meiner Kinder sein wird, sondern die meiner Enkel.


© Claudio Grass
www.claudiograss.ch


Dieser Artikel wurde am 10.11.2022 auf claudiograss.ch veröffentlicht und exklusiv für GoldSeiten übersetzt.


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