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In den Abgrund starren (Teil I)

26.01.2012  |  John Mauldin
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  • 3. Das eigentliche Problem in Europa sind jedoch die enormen Handelsungleichgewichte zwischen den Randnationen und den sogenannten Kernnationen. Fehlt nun die Möglichkeit der Auf- oder Abwertung von Landeswährungen, wird jede Lösung des Schuldenproblems durch eben jene Handelsungleichgewichte konterkariert. Denn ein Land kann seinen Staatshaushalt nicht ausgleichen, während es gleichzeitig ein Handelsdefizit einfährt und die Bürger und Unternehmen sich obendrein noch entschulden. Ich habe schon im Vorfeld häufig über dieses mathematische Problem geschrieben. Es muss ein Gleichgewicht geben, oder es muss ein Mechanismus existieren, um einen Ausgleich zu erreichen.

Man kann nicht eines der Probleme lösen, ohne alle drei Probleme zu lösen. Entweder alle zusammen werden behoben, oder kein einziges wird richtig gelöst. Man kann Zeit schinden, indem man Probleme 1 und 2 löst, aber Problem 3 wird schon bald dafür sorgen, dass man wieder ganz am Anfang steht.

Europa versucht sich jetzt an der Lösung der Probleme 1 und 2. Man redet von einem "neuen Vertrag", der wahre Austerität voraussetzt, obgleich Deutschland wohl eine Klausel eingebracht hat, der dem Land etwas mehr Zeit für einen Ausgleich des Staatshaushalts verschafft. Die EZB verteilt zudem über die Hintertür Euros an die Banken - im Austausch gegen alles, was noch an Schuldensicherheiten erinnert. Natürlich nicht direkt, weil das verboten ist. Aber im Endeffekt wird genau das erreicht, trotz des Widerstands aus manchen Lagern, besonders der Deutschen.


In den Abgrund starren

Es war Ende September 1998, als ich von New York nach Bermuda flog, um dort auf einer Hedgefonds-Konferenz zu sprechen. In der letzten Minute wurde ich in die nächstbessere Reiseklasse umgebucht, was mich damals (als noch nicht so häufig flog) recht glücklich machte. Als sich die Türen schlossen, kam ein großbürgerlich aussehender Gentleman den Gang entlang, er setzte sich neben mich und schlug sofort eine Akte auf und vertiefte sich in seine Lektüre. Ich hatte ein Buch und das Wall Street Journal dabei, ich konnte also auf der Reise gemütlich lesen.

Sobald wir in der Luft waren, bestellte er einen Scotch. In der kommenden Stunde führte er dann einen sehr angriffslustigen Kampf gegen die abnehmenden Bestände an Scotch-Flaschen, die im Flugzeug verfügbar waren. Es war ein beschwerlicher Kampf, er war jedoch fest entschlossen, diesen zu gewinnen.

Er überflog flüchtig das Titelblatt meiner Zeitung und fand dort eine Schlagzeile zur Krise, zu der es in der Woche zuvor gekommen war. Ich hatte die extreme Marktvolatilität mit Interesse verfolgt. Da das Internet aber erst ein paar Jahre alt war, las man das meiste noch in Druckform oder erfuhr es am Telefon.

]"Die wissen doch gar nicht, wie knapp das war” sagte er mit einem leichten Schaudern, und plötzlich waren in seinen Augen Gefühle - auch Angst - zu lesen. Er erregte meine Aufmerksamkeit und ich verwickelte ihn in ein Gespräch, ohne jedoch seine wertvolle Scotch-Sammlung anzurühren. Ich beließ es bei einem guten Chardonnay. Wie sich herausstellte, war er Vize-Chef einer der größten Banken des Landes. Er war auch bei der Versammlung der New York Fed anwesend, als 14 Banken gezwungen wurden 3,625 Milliarden $ aufzubringen, um den Zusammenbruch von Long Term Capital zu verhindern.

Nur Bear Stearns hatte sich damals geweigert (was auch der Grund ist, warum die Bank 10 Jahre später keine Freunde hatte). Der Präsident der NY Fed rief damals im Grunde alle Bankenchefs zusammen und forderte, sie mögen persönlich anwesend sein, keine Stellvertreter senden und ihre Scheckhefte mitbringen. Die Fed handelte sich damit viel Kritik ein, aber sie tat das, was eine Zentralbank unter solchen Umständen tun muss: Sie sorgte für Ordnung und Ruhe im Sandkasten. Sie war die einzige Institution, der es möglich war, die verschiedenen Super-Ego-Akteure zusammen an einem Tisch zu vereinigen.

“Keiner wird je erfahren, was wirklich passierte.”, sagte er erneut. Aber natürlich wusste es bald jeder, da Roger Lowenstein seinen aus dem Leben gegriffenen, unbedingt lesenswerten Thriller When Genius Failed schrieb.

"Wir kamen an den Rand des Abgrunds und blickten hinein.” Ich ergötzte mich an seinen Geschichten über die Verhandlungen und die Schwere der Folgen für jeden einzelnen der Teilnehmer an den Verhandlungen, gesetzt den Fall, sie hätten den Zusammenbruch zugelassen. Sie alle waren mit der LTCM verbunden, aber erst als es zu spät war, erkannten sie, in welchem Ausmaß. Hätten sie nicht gehandelt, hätte der Vorfall rückblickend wohl die Dimension der Kreditkrise von 2008 annehmen können, außer dass alles viel schneller gegangen wäre.

Auf jeden Fall wollte keiner im Raum einen Scheck über 300 Millionen $ ausstellen. Das wäre schlecht für ihre Karrieren gewesen. Interessanterweise wurde der Fonds nach zwei Jahren wieder aufgelöst, und die Banken bekamen ihr Kapital zuzüglich eines kleinen Gewinns zurück.

Und jetzt machen sich die Banker und die politischen Entscheidungsträger Europas auf den Weg zum Rand des Abgrunds. Der Weg nach unten ist weit und er wird wohl wie Dantes 7. Höllenkreis aussehen.

Den ersten Blick nach unten wird man schon in den nächsten Wochen werfen, wenn Griechenland offensiv mit seinen Kreditgebern über den Umfang des "Haircuts" verhandelt und über die Garantien, die Griechenland für die verbleibenden Schulden bieten wird (man scheut sich davor, die neuen Anleihen rechtlich so zu fixieren, dass die Anleihehalter im Fall eines erneuten Ausfalls - der eintreten wird - in einer besseren Position sind). Griechenland verhandelt zudem mit Europa darüber, wie viele zusätzliche Austeritätsmaßnahmen sie noch über sich ergehen lassen müssen, um neue Kredite gewährt zu bekommen.

Sollten sie alles hinschmeißen, kommt es zum unkoordinierten Ausfall und Chaos wäre vorprogrammiert. Die Sicherheiten der Banken brächen zusammen und für die Kreditausfallversicherungen würde der Schadensfall eintreten. Ein großer Teil dieser Versicherungen wurde zudem von europäischen Banken ausgegeben wurden, die ohnehin schon praktisch insolvent sind.




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