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Amargi - die Geschichte der Verschuldung

01.01.2012  |  Klaus Singer
"Amargi" - für den Anthropologen David Graeber ist das das erste, in irgendeiner Sprache überlieferte Wort für "Freiheit", ein Wort für Schuldenfreiheit. Wörtlich übersetzt bedeutet es "Rückkehr zur Mutter", nach Entlassung aus der Schulden-Knechtschaft konnten die ehemaligen Schuldner nach Hause gehen (neu anfangen).

Der sich selbst als Anarchist bezeichnende Graeber ist Professor an der Universität von London. Er hat sich in seinem neuesten Buch "Debt: The First 5.000 Years" mit der Geschichte der Schulden beschäftigt. Motivation war für ihn, dass die Verschuldung in der Zwischenzeit praktisch alle Bereiche des gesellschaftlichen und privaten Lebens durchdrungen hat, ihre Geschichte aber noch nicht umfassend dokumentiert wurde.

Die ökonomischen Techniker von heute reduzieren den Begriff "Schulden" auf eine einfache Berechnung von "Soll" und "Haben". Graeber zeigt, dass "Schulden" viel mehr sind. Sie sind nicht nur eine geldliche Schuld, sondern auch eine moralische Kategorie, eine Verpflichtung. Wie jede Moral bietet sich auch bei den "Schulden" ein Ansatzpunkt für gesellschaftliche Machtverhältnisse, für Beherrschung und Unterdrückung. So galten im alten Mesopotamien Schulden als ein Versprechen, das mit Gewalt durchgesetzt werden konnte. Schulden begründeten und begründen gesellschaftliche Abhängigkeiten.

Graeber stellt klar, dass es das Phänomen der Verschuldung wenig mit dem Geldsystem zu tun hat. Schulden gab es schon vorher und unabhängig hiervon. Das ist auch einfach einzusehen. Da nicht jedes Mitglied einer Gesellschaft zu jedem Zeitpunkt über alle lebensnotwenigen Dinge verfügen konnte, musste es sich welche leihen, sich also verschulden, wenn der Gegenpart angebotene Dinge nicht benötigte. Dies sieht zwar aus wie ein Tauschhandel, den z.B. Adam Smith als Beginn des ökonomischen Handelns sieht. Aber in Wirklichkeit wurden hier, auf der Stufe der "menschlichen Ökonomie", keine Waren getauscht, sondern Verpflichtungen. Das später aufkommende Geld diente zunächst auch nur dazu, das Werteverhältnis von Dingen zu dokumentieren.

Mit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft - Marx würde herausstellen, mit der Entwicklung ihrer Produktivität und damit der Vermehrung des gesellschaftlichen Mehrwerts-, verschärfte sich der Kampf um dessen Verteilung und damit um die Verteilung gesellschaftlicher Macht. Parallel dazu wurde Geld im Stadium der "kommerziellen Ökonomien" zur Sache, es gewann ein Eigenleben und entwickelte sich schließlich zu einer "creatio ex nihilo", die Wert aus sich selber heraus schafft. Damit erst begann Geld selbst, soziale Beziehungen massiv zu beeinflussen.

Denn wenn das Schuldensystem erst einmal auf einer "Schöpfung aus dem Nichts" aufbaut, ist es in der Welt einer doppelten Theologie angekommen, "eine für die Geldgeber und eine für die Schuldner", wie Graeber schreibt. Die einen Mitglieder der Gesellschaft müssen sich verschulden, um ein Leben zu leben, das mehr ist als bloßes Überleben. Die anderen verleihen Geld, was sie über Schulden finanzieren. Die einen müssen ihre Schuld auf Heller und Pfennig abtragen. Die anderen müssen ihre eigenen Schulden aber nicht bezahlen.

Genau dann wird hohe Verschuldung zu einer moralischen Existenzbedrohung für bestehende Gesellschaften, schreibt Graeber. Und da sind wir heute angelangt. Schlimmer noch: Früher war eine hohe Verschuldung eher eine Ausnahme in Kriegs- und Krisenzeiten, heute scheint sie allmählich zur Regel zu werden.

Bis zu den 1980er Jahren, erst recht vor Mitte der 1970er war die Existenz des Ostblocks ein Grund für die Selbstzügelung des Finanzkapitalismus. Insbesondere das Bretton Woods System gewährleistete noch eine gewisse "Bodenhaftung", das Bestehen des Ostblocks sorgte zudem für politische und wirtschaftliche Zugeständnisse an die breiten Bevölkerungsschichten, um diese "zufrieden" zu halten.

Graeber sagt, in den USA sei in den zurückliegenden Jahren so ziemlich alles in Frage gestellt worden, außer dem einen Glaubenssatz, dass man seine Schulden bezahlen muss. Jetzt sei aber klar, dass dies eine Lüge ist: "Wie wir jetzt sehen, müssen eben nicht "alle" ihre Schulden bezahlen. Nur einige von uns müssen. Nichts wäre wichtiger, als den Tisch aufzuräumen für jeden, unsere eingeübte Moralität in Frage zu stellen und neu zu beginnen."

Was in den USA gilt, gilt auch hier. "Längst hat diese Schuld zu einem autoritären Zuwachs des Staates geführt, der jetzt zunehmend unkontrolliert Opfer verordnen kann und vor allem wird. Noch haben die meisten Deutschen offenbar das Gefühl, dass sie die Schulden abbezahlen können. Ändert sich dies, ändert sich alles," schreibt F. Schirrmacher in der FAZ dazu.




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