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Der große Wandel: Der Niedergang der westlichen Politik

15.09.2023  |  Claudio Grass
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Es gab aber auch ein paar wenige, die nicht einfach dem folgten, was sich "richtig anfühlte" oder was gerade populär oder bequem war, sondern die sich die Mühe machten, sich eine eigene Meinung zu bilden. Sie lasen alles, was sie hätten lesen können, sie zweifelten und argumentierten und analysierten und hinterfragten die Grundprinzipien und Kernaussagen der Glaubenssätze, die sie schließlich annahmen und befolgten. Diesen wenigen Menschen verdanken wir unsere Vorstellung von einer modernen Debatte, von einem zivilisierten, respektvollen, aber völlig ungehemmten und ungefilterten, echten und sinnvollen Dialog.


Lasst uns "dem Kaiser geben, was des Kaisers ist".

Viele von uns haben vielleicht das Gefühl, dass die Mainstream-Medien, das Establishment und der Zeitgeist im Allgemeinen Menschen, die konservative Werte vertreten, oder denen, die einfach nur ihre historische Identität und Kultur bewahren wollen, oder sogar denen, die einfach nur in Ruhe gelassen werden wollen, feindselig gegenüberstehen. Und bedauerlicherweise ist all dies im Moment höchstwahrscheinlich der Fall.

Aber es gab eine Zeit, in der dies auch für die "andere Seite" galt. Es gab eine Zeit, noch gar nicht so lange her, da war es eine "Randmeinung", sich gegen einen ungerechten und unrechtmäßigen Krieg auszusprechen. Es gab eine Zeit, in der der Kampf für die Bürgerrechte (d. h. für die grundlegende Menschenwürde, die wir heute als selbstverständlich ansehen) weder populär noch bequem war, und es gab eine Zeit, in der die Verteidigung des Rechts der Frauen, als gleichberechtigte, souveräne Individuen und nicht bloß als "dankbare Dienerinnen" zu existieren, eindeutig nicht die gängige Meinung war.

Es erforderte Mut, es erforderte Selbstlosigkeit, es erforderte echte Größe und echte Tapferkeit, sich öffentlich zu diesen Ansichten zu bekennen und zu ihnen zu stehen.

Und deshalb bewundere und verehre ich diese guten alten, anständigen, ehrenhaften "Linken" und vermisse sie so sehr. Diese guten Menschen, diese wahren Humanisten, diese hoffnungslosen Romantiker, diese unermüdlichen Don Quijotes. Wir sind aneinandergeraten und haben uns in jeder erdenklichen Weise unterschieden, abgesehen von der einzigen Weise, die wirklich zählt. Wir hatten nichts gemeinsam, bis auf eines: unseren unbestreitbaren, unanfechtbaren Respekt füreinander und für unsere Mitmenschen.

Das ist es, was ich an dieser Art von Menschen liebe und am meisten vermisse: Wie ich, wie Sie, egal wie sehr sie an ihre Ideen glaubten und wie sehr sie es liebten, einen Streit zu gewinnen, sie liebten die Menschheit mehr. Sie hätten sich gerne eines Besseren belehren lassen, wenn das bedeutet hätte, dass es den Menschen um sie herum besser geht.

So wie ich mir nichts Schöneres vorstellen könnte, als den Beweis zu sehen, dass die egalitäre Utopie, die sie sich vorstellen (in der jeder versorgt ist und niemand mehr arbeiten muss, weil es eine zentrale Planung oder eine Umverteilung von Ressourcen oder ein universelles Grundeinkommen oder ein anderes Äquivalent gibt), tatsächlich länger als eine Woche funktionieren könnte.

Im kommenden zweiten Teil werden wir uns mit der "großen Veränderung" befassen, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat, wie sie die Heuchelei der politischen Führer entlarvte und wie sie die Glaubwürdigkeit unseres derzeitigen Systems dauerhaft beschädigte.


Der große Wandel

Natürlich ist dies die Linke, aber auch die Rechte, der guten alten Zeit. Eine Zeit in der man sich in einer Debatte wie ein Gentleman verhielt und echten Sportsgeist zeigte. Das war die Zeit, in der kultivierte, neugierige und bescheidene Menschen leidenschaftlich, aber ehrenhaft diskutierten. Das waren die Tage des Anstands, der Höflichkeit und der Zivilisiertheit.

Aber es waren auch die Tage der ideologischen Integrität und Konsequenz. So stimmten beispielsweise die Argumente und Gefühle vieler anständiger Bürger gegen den Irak-Krieg weitgehend mit denen überein, die gegen den Vietnam- und den Korea-Krieg vorgebracht worden waren. Die meisten Leser werden sich wahrscheinlich daran erinnern, woher der Widerstand gegen den letzten "großen" Krieg – die "Intervention" der USA im Irak – kam: Obwohl die US-Invasion in den wichtigsten westlichen Ländern öffentliche Unterstützung fand (z. B. waren laut Gallup-Umfragen 72% der Amerikaner und 54% der Briten dafür), gab es immer noch lautstarken, hartnäckigen und heftigen Widerstand.

Es gab einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung, der diesen Krieg als illegal und ungerechtfertigt ablehnte und verurteilte. Allerdings war die "große Wende" wahrscheinlich bereits im Gange: Auch wenn viele ehrenwerte Bürger (unabhängig von ihrer politischen Einstellung) weiterhin konsequent gegen die staatliche Aggression waren, gehörten zu viele linke Persönlichkeiten nicht mehr zu dieser Opposition. Im Gegenteil, eine erschreckend starke Welle von linken Intellektuellen, Akademikern und natürlich Politikern brachte offen ihre Unterstützung für den Krieg zum Ausdruck.

Es erfordert eindeutig ein hohes Maß an geistiger Flexibilität (oder eine erstaunlich anpassungsfähige Moral) von jedem, der angeblich an Freiheit und Gleichheit für alle Menschen glaubt, die Vorstellung von gewaltsamer Aggression, Invasion und Besatzung in Einklang zu bringen und anzunehmen. Dies gilt insbesondere für belesene, gebildete, kritische (und zuvor rechtschaffene und moralische) Menschen, bei denen es sehr unwahrscheinlich ist, dass sie in die propagandistischen Fallen des Tages tappen oder glauben, dass die "Verbreitung der Demokratie" eine angemessene Rechtfertigung für Kriegshandlungen ist.

Vielleicht gab es andere Erklärungen für diesen Wandel: Vielleicht wurde klar, dass die "Marketingkampagne" der Befürworter des Konflikts zu wirksam war und es daher politisch zweckmäßig war, sich ihr anzuschließen, anstatt sie zu bekämpfen. Vielleicht wurde opportunistisches Kalkül an die Stelle ethischer Erwägungen gesetzt, und vielleicht hat das alte Sprichwort etwas für sich: "Wenn du sie nicht schlagen kannst, verbünde sich mit ihnen."

Wie auch immer die Erklärung lauten mag, Tatsache ist, dass dieser Wandel, der unauffällig begann und sich schrittweise vollzog, sich langsam aber sicher zu etwas anderem entwickelt hat, zu etwas ziemlich Bizarrem und politisch Surrealem.


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