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Der Schatten des Jahres 1929

26.01.2004  |  Markus Mezger
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Die realwirtschaftlichen Größen können mit diesem stürmischen Wachstum längst nicht mehr mithalten. Geht man beispielsweise davon aus, dass der amerikanische Aktienmarkt in den nächsten fünf Jahren auf dem aktuellen Kurslevel stagniert, so müssten die Unternehmensgewinne mit durchschnittlich 13,75% per annum wachsen, um die bereits entstandene Lücke zu schließen. Dies wäre eine deutlich höhere Rate als in den vergangenen fünf Boom-Jahren (Gewinnwachstum 10,93%). Setzte sich allerdings das Tempo der Kurssteigerungen der letzten fünf Jahren mit einer jährlichen Performancerate von 26% in den nächsten fünf Jahren fort, so wäre schon ein Gewinnwachstum von 43% erforderlich, um die dann erreichten Kursstände auch fundamental zu untermauern.

Dabei wird schon von vielen Kritikern vermutet, dass die erheblichen Gewinnanstiege der letzten fünf Jahre teilweise virtueller Natur sein könnten. Beispielhaft lässt sich das Phänomen der Stock Options anführen, mit denen jahrelang die Gewinne hoch- und die Personalkosten kleingerechnet wurden. Da die echten Kosten dieser Optionen nach amerikanischen Bilanzrecht nicht ausgewiesen werden müssen, konnte ein scheinbar stetig steigender Unternehmensgewinn bei tendenziell sinkenden Personalkosten dargestellt werden.

Es wurde errechnet, dass einer der größten Technologiekonzerne Amerikas statt stetiger Gewinnsteigerungen einen zweistelligen Milliardenverlust ausweisen würde, wenn die echten Kosten der Stock Options plötzlich offen gelegt werden müssten. Die Kritiker vergleichen derartige Bilanzmanöver sogar mit den luftigen Buchhaltungspraktiken verschiedener japanischer Firmen in der Bubble-Phase der achtziger Jahre.

Sollte die Wachstumsrate der Gewinne börsennotierter US-Aktiengesellschaften letztlich wieder auf ihren langjährigen Durchschnittswert (1973 bis 1999) von 8,65% zurückfallen, dann müsste der amerikanische Aktienmarkt in den nächsten fünf Jahren um insgesamt 20,5% bzw. 4,5% pro Jahr fallen, um die Schere zwischen fundamentalen Größen und Aktienkursentwicklung wieder zu schließen.

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Traditionelle Bewertungsmaßstäbe bedeutungslos

Eine der auffälligsten Parallelen zwischen den 20er und den 90er Jahren ist der Umstand, dass traditionelle Maßstäbe zur Bewertung von Aktien vor allem im Bereich der neuen Technologien zunehmend obsolet wurden. Es schien fast so, dass die neuen Paradigmen nicht Ursache, sondern Folge der gewaltigen Hausse waren. So standen in den 20er Jahren entsprechend dem tiefen Fortschrittsglauben vor allem die neuen Wachstumsindustrien im Mittelpunkt der Börsenhausse.

Zu den Favoriten der Spekulation zählten neben den neuen edienaktien auch die Aktien der Wachstumsbranchen Telefon, Elektronik, Luftfahrt, Chemie und der Versorgungsbranche. Diese Branchen kennzeichneten eine kurze Firmenhistorie und hohe, jedoch kaum kalkulierbare Ertragsperspektiven bei zugleich geringen oder fehlenden Dividendenausschüttungen. Ließen sich die Bewertungen nicht mehr nach traditionellen Maßstäben eingrenzen, so konnte mit neuen Kennziffern und fantasievollen Schätzungen jeder Kurs fundamental begründet werden. Diffuse Gewinnpotenziale scheinen somit ein gutes Fundament für den Bau spekulativer Luftschlösser zu bieten.

Prominentes Beispiel war damals die als »General Motors of the Air« bezeichnete Radio Corporation of America (RCA), die vor allen durch Akquisitionen ein rasantes Umsatzwachstum von über 50% pro Jahr erzielte, jedoch noch keine Dividenden zahlte. Ihr Kurs stieg seit Jahresbeginn 1928 von 85 USD bis zum September 1929 auf 505 USD. Die Aktien der in den 20er Jahren sehr innovativen Versorgungsbranche konnten in den zwölf Monaten vor dem Crash durchschnittlich über 120% zulegen, während die im Dow Jones-Index enthaltenen Industrietitel nur 60% und die als alte Industrie betrachteten Eisenbahnaktien lediglich rund 30% gewinnen konnten. Insoweit war der damalige Markt extrem gespalten.

Die herausragenden Aussichten und Übernahmefantasien, die den Wachstumsaktien zugesprochen wurden, spiegelten sich auch in weit überdurchschnittlichen Kurs-Gewinn-Verhältnissen wider. Das KGV der Versorgerbranche von durchschnittlich 26 wurde nur noch durch ein KGV von über 35 der innovativen Radioaktien übertroffen. Die im Dow Jones-Index enthaltenen Unternehmen wurden im September 1929 insgesamt mit dem einundzwanzigfachen ihrer erwarteten Gewinne bezahlt und damit doppelt so hoch wie der langjährige KGV-Durchschnitt von zehn bis zwölf. In der letzten Phase der damaligen Kursblase hatte sich die Marktkapitalisierung der Wall Street bis zu 89,7 Mrd. USD aufgebläht und überstieg mit dem Faktor 1,1 bereits das gesamte amerikanische Volkseinkommen in Höhe von 81 Mrd. USD.

Die aktuelle Bewertung amerikanischer Aktien stellt heute die damaligen Rekorde längst in den Schatten. Die Marktkapitalisierung des gesamten amerikanischen Aktienmarktes in Höhe von rund 16,8 Billionen USD (NASDAQ: 6,6 und Big Board: 10,2 Billionen USD) übertraf Ende März 2000 mit dem Faktor 1,7 das nominale Bruttosozialprodukt von 9,5 Billionen USD.

Während die neuen Lieblinge der Börsianer, die Internet-Aktien, von einem Allzeit-Hoch zum nächsten klettern, befindet sich der überwiegende Teil der Aktien der »alten« Industrie in einer tiefen Baisse. Dies zeigt die seit Mitte 1998 steil abfallende Advance-Decline-Linie des Gesamtmarktes, welche die über ein Jahr laufende Summe der Aktien mit Kurszuwächsen minus der Aktien mit Kursverlusten verkörpert.

Von den Kursverlusten in den herkömmlichen Branchen, stellvertretend seien die Auto- und die Konsumbranche genannt, lenken die Aufsehen erregenden Höhenflüge der Technologieaktien ab. Von Anfang November 1998 bis Anfang März 2000 hat sich der technologielastige Aktienindex Nasdaq100 noch einmal mehr als verdreifacht, während die Investoren am Gesamtmarkt mit einer Performance von knapp 30% zufrieden sein mussten. Für Internettitel muss mittlerweile ein Kurs-Gewinn-Verhältnis jenseits der 200 in Kauf genommen werden. Wie aus (2) zu entnehmen ist, werden Technologieaktien heute zu einem doppelten so hohen KGV bezahlt wie die restlichen Aktien, während sie zu Beginn 1996 nur mit einem Aufschlag des 1,2fachen KGV gehandelt wurden.


Aktien gegenüber Anleihen relativ teuer

Aktien konkurrieren mit festverzinslichen Wertpapieren und alternativen Vermögensanlagen wie Immobilien um die Gunst der Anleger. Da Unternehmenserträge gegenüber festen Zinszahlungen großen Schwankungen unterworfen sind, fordern Aktienkäufer für das höhere Risiko eine Prämie in Form zusätzlicher Erträge. Die Vorliebe für das riskantere Aktiengeschäft wurde bereits in den 20er Jahren durch zeitgenössische Bücher angestachelt. E. L. Smith zeigte seinen Lesern, dass Aktien insbesondere in den ersten beiden Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts deutlich höhere Erträge als Anleihen erzielt hätten.

So verselbstständigte sich schon damals die Idee, dass Aktien unabhängig von ihrer aktuellen Bewertung Rentenpapieren vorzuziehen seien. Die Dividendenrendite verlor deshalb in der Endphase der Spekulation ihre Funktion als Vergleichsmaßstab für die Rentabilität von Aktien im Vergleich zu Renten. Während die Dividendenzahlungen bis 1927 mit dem Anstieg der Aktienkurse noch einigermaßen mithalten konnten, war wohl der Gewinnsprung bei vielen Unternehmen wie z. B. General Motors 1928 der Auslöser für eine drastische Überschätzung künftiger Gewinnausschüttungen.

Die Hoffnungen auf eine Überrendite der Anlagegattung Aktien zerstoben in der großen Depression, die dem Kurssturz im Oktober 1929 folgte. Erst 25 Jahre später, am 23. November 1954, sollte der Dow Jones Industrials wieder den Höchststand des 2. September 1929 von 381,17 Punkten erreichen. Eine alternative Geldanlage in festverzinslichen Wertpapieren hätte dagegen das Kapital in dieser Zeit um rund 150% anwachsen lassen.

Die langjährige Hausse der Gegenwart hat unter den amerikanischen Investoren heute erneut den Glauben erweckt, dass Aktien festverzinslichen Papieren zu jedem Zeitpunkt überlegen seien. Die laufenden Dividendenrenditen von durchschnittlich rund 1,2% können dabei jedoch kaum als Kaufargumente herangezogen werden. In den letzten Jahren wurden diese Gewinnausschüttungen komplett von den Inflationsraten aufgezehrt. Dies sollte allerdings nicht überbewertet werden, da steuerliche Aspekte und die Selbstfinanzierung von Investitionen aus dem Gewinn für junge Wachstumsunternehmen gute Gründe für eine rückläufige Ausschüttungsquote sein können.

Gravierender ist da schon, dass die Relation zwischen Unternehmensgewinnen und Kursniveau mit einer aktuellen realen Rendite von knapp unter einem Prozent ein historisches Tief erreicht hat. Gleichzeitig bekommen Investoren, die nicht allein auf die Zukunft setzen wollen, am kurzen wie am lange Ende des Rentenmarkts deutlich höhere Realzinsen geboten. Die Spannungen zwischen den Aktien- und Rentenrenditen, die sich beispielsweise auch im Sommer 1987 in ähnlicher Größenordnung aufgebaut hatten, entluden sich schließlich am 19. und 20. Oktober 1987, als der Dow Jones Industrials in zwei aufeinander folgenden Handelstagen variabel mehr als 40% seines Werts einbüßte. Die seit Anfang 1999 anziehenden Realzinsen haben die Schere zwischen Eigenkapital- und Fremdkapitalverzinsung erneut weit geöffnet (3).




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