Der nächste Minsky-Moment
27.06.2017 | John Mauldin
"Die Wirtschaft Chinas hat einen neuen Normalzustand erreicht." - Premier Li Keqiang, 2015
"Erfolg führt dazu, dass wir die Möglichkeit des Scheiterns missachten." - Hyman Minsky
"Erfolg führt dazu, dass wir die Möglichkeit des Scheiterns missachten." - Hyman Minsky
Der Minsky-Moment
Die Wirtschaftswissenschaften bergen eine ganze Reihe abgedroschener Themen und Phrasen. Ein solcher Ausdruck ist der "Minsky-Moment", der den Zeitpunkt bezeichnet, an dem zu hohe Verschuldung eine Finanzkrise auslöst. Der bereits verstorbene Ökonom Hyman Minsky war der Ansicht, dass solche Momente auf natürliche Weise entstehen, wenn eine lange Zeit der Stabilität und Selbstzufriedenheit schließlich zur Entstehung eines zu großen Schuldenüberhangs und einem Übermaß an Fremdkapitalfinanzierungen führt. An einem bestimmten Punkt bricht der Ast und die Schwerkraft lässt sich nicht länger überlisten. Das kann ganz schnell gehen.
Minsky hat unter Schumpeter studiert und wurde offensichtlich von vielen der klassischen Wirtschaftstheoretiker geprägt. Ihm gebührt dennoch Anerkennung dafür, dass er eine Reihe vager, unausgegorener Ideen formalisierte und in einflussreiche ökonomische Leitthemen verwandelte. Ich hatte oft das Gefühl, dass Minsky nicht die Anerkennung erhielt, die er verdient hätte. Wenn ich mir so manche lächerliche Idee ansehe, für die es einen Wirtschaftsnobelpreis gab, und sie mit der Bedeutung von Minskys Werk vergleiche, bekomme ich eine Ahnung davon, welche politische Dimension solchen ökonomischen Auszeichnungen innewohnt.
Minskys Modell des Kreditsystems, das er als "Hypothese der finanziellen Instabilität" bezeichnete, umfasste zahlreiche Grundgedanken, die bereits von John Stuart Mill, Alfred Marshall, Knut Wicksell und Irving Fisher geäußert worden waren. "Eine fundamentale Eigenschaft unserer Wirtschaft", schrieb Minsky 1974, "besteht im Pendeln des Finanzsystems zwischen Robustheit und Zerbrechlichkeit, und diese Schwingbewegungen sind integraler Bestandteil des Prozesses, der die Konjunkturzyklen generiert." (Quelle: Wikipedia)
Ich musste an Minsky denken, weil ich in den letzten Wochen noch mehr Anzeichen dafür erkannt habe, dass die Finanzmärkte überbewertet sind und die Investoren einen übertriebenen Optimismus an den Tag legen. Dennoch habe ich noch nicht viele Hinweise auf Minsky gesehen. Das ist etwas überraschend.
Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich Minsky in letzter Zeit ebenfalls nicht erwähnt habe. Das könnte sich als gefährliche Unachtsamkeit erweisen, denn wenn wir seine fundamentalen Einsichten vergessen, birgt das ernste Risiken. Das kurze Straucheln des Technologiesektors in der letzten Woche hätte ein Weckruf sein müssen. Aus diesem Grund frischen wir heute unsere Kenntnisse über Minskys Theorien ein wenig auf und werfen einen Blick auf die jüngsten Warnzeichen. Ich bin mir sicher, dass bald überall von Minsky die Rede sein wird.
Natürliche Instabilität
Hyman Minsky, der im Jahr 1996 verstarb, verbrachte den Großteil seiner akademischen Laufbahn mit dem Studium von Finanzkrisen. Er wollte wissen, welche Ursachen sie hatten und wodurch sie ausgelöst wurden. All seine Untersuchungen führten ihn schließlich zur Hypothese der finanziellen Instabilität. Seiner Ansicht nach standen die Krisen in engem Zusammenhang mit der Verschuldung. Minsky war jedoch nicht grundsätzlich gegen alle Formen von Schulden. Er unterteilte sie in drei Kategorien.
Die sicherste Kategorie nannte er "abgesicherte Finanzierung". In diesem Fall nimmt z. B. ein Unternehmen Schulden auf, um seine Produktionskapazität zu erweitern und verwendet anschließend einen Teil seines aktuellen Cashflows für Zinszahlungen und zur Tilgung der Kreditsumme. Diese Art der Schulden ist nicht ohne Risiko, doch die Konsequenzen einer Zahlungsunfähigkeit sind im Allgemeinen begrenzt.
Minskys zweite und riskantere Kategorie ist die "spekulative Finanzierung". Der Unterschied zwischen spekulativen und abgesicherten Schulden besteht darin, dass der Kreditnehmer seinen aktuellen Cashflow bei einer spekulativen Finanzierung nur für Zinszahlungen verwendet, aber davon ausgeht, dass er das Darlehen selbst verlängern und später zurückzahlen kann. Manchmal geht das gut. Manche Kreditnehmer spielen dieses Spiel jahrelang und zahlen ihre Schulden dann eines Tages tatsächlich zurück. Es handelt sich dabei allerdings um eines dieser Systeme, die nur solange relativ gut funktionieren, bis es eines Tages etwas Unerwartetes geschieht.
Die dritte Kategorie der Schulden ist Minsky zufolge die gefährlichste: Bei der "Ponzi-Finanzierung" reicht der Cashflow des Kreditnehmers nicht zur Deckung der Zinsen, geschweige denn zur Rückzahlung der Schulden. Der Plan - wenn man das überhaupt als Plan bezeichnen kann - besteht darin, das zugrundeliegende Asset zu einem höheren Preis zu verkaufen, die Schulden zu begleichen und einen Gewinn zu verbuchen.
Ponzi-Finanzierung kann funktionieren. Manchmal erwischen die Kreditnehmer genau den richtigen Zeitpunkt (oder haben einfach nur Glück) und kaufen fremdfinanzierte Vermögenswerte, bevor diese wieder im Kurs fallen. Der Immobilienboom von 2003-2007, bei dem auch Leute mit geringen finanziellen Mitteln durch den Kauf und Verkauf von Häusern Geld verdienten, lockte mehr und mehr Menschen an den Markt und führte zu rasant steigenden Preisen. Das Phänomen verstärkte sich selbst. Bullenmärkte im Immobiliensektor, an den Börsen oder an anderen Märkten können sich länger fortsetzen und höhere Kursniveaus erreichen als wir Skeptiker das für möglich halten. Genau das macht sie so gefährlich.
Minskys einzigartiger Beitrag zu diesem Thema besteht in der Analyse der Ereignisabfolge. Lange, stabile Phasen, in denen abgesicherte Finanzierungen gut funktionieren, ermutigen sowohl Kreditnehmer als auch Kreditgeber, mehr Risiken einzugehen. Eines Tages werden vernünftige Praktiken von Ponzi-Systemen abgelöst. An einem gewissen Punkt steigen die Assetpreise nicht weiter. Sie müssen nicht unbedingt sofort einbrechen. Es reicht schon, wenn es nicht weiter aufwärts geht. Dann nimmt die Krise ihren Lauf.
Die Zeitschrift The Economist beschreibt diesen Prozess in einem erklärenden Artikel aus dem Jahr 2016 sehr gut:
"Volkswirtschaften, in denen die abgesicherte Finanzierung vorherrscht - d. h. Volkswirtschaften mit hohen Cashflows und niedrigem Verschuldungsgrad - sind am stabilsten. Wenn spekulative Finanzierungen und vor allem Ponzi-Finanzierungen zunehmen, werden die Finanzsysteme problemanfälliger. Wenn dann die Assetpreise entweder infolge einer strafferen Geldpolitik oder aufgrund eines externen Schocks zu sinken beginnen, werden sich die Unternehmen mit der geringsten Verlusttoleranz zum Verkauf ihrer Positionen gezwungen sehen. Das setzt die Kurse weiter unter Druck und bringt Probleme für weitere Firmen mit sich.