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K.W.F.-Reihe: Scheinwachstum und nachhaltigem Wachstum (6/6)

31.01.2007  |  Mag. Gregor Hochreiter
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Der ökonomische Hintergrund

Der Grad an Geduldigkeit eines Menschen findet ihre ökonomische Entsprechung im Konzept der Zeitpräferenz. Die Zeitpräferenz eines Menschen bildet seine relative Wertschätzung von heutigem Konsum im Vergleich zu morgigen Konsum ab. Menschen mit einer hohen Zeitpräferenz betonen die Gegenwart und beziehen die langfristigen Folgen ihres Handelns nicht in die Bewertung der Handlungsalternativen ein. Menschen mit einer niedrigen Zeitpräferenz berücksichtigen hingegen die langfristigen Konsequenzen ihrer Handlungen.

Ein Alltagsbeispiel soll dieses Konzept veranschaulichen. Das Verhalten von Herrn Mayer zeichnet sich durch eine hohe Zeitpräferenz aus. Er stopft sich den Magen tagtäglich so voll es nur geht. Er ist zu keinerlei Verzicht bereit, zu gut mundet ihm, dem Gourmand, das Essen. Ob diese Völlerei langfristig zu gesundheitlichen Problemen führt, ist ihm schlichtweg egal. Herr Müller, der als bekennender Gourmet gutem Essen ebenso wenig abgeneigt ist, denkt jedoch an die Folgen des übermäßigen Konsums und begnügt sich daher bewußt mit einer kleinen Portion.

Anders ausgedrückt. Menschen mit einer hohen Zeitpräferenz verlangen eine hohe Ausgleichszahlung für ihren kurzfristigen Konsumverzicht, während Menschen mit einer niedrigen Zeitpräferenz eine vergleichsweise geringe Kompensation einfordern. Menschen mit einer hohen Zeitpräferenz verzichten beispielsweise nur dann auf den sofortigen Verzehr von 100 Heidelbeeren, wenn sie am Ende des Jahres 110 Heidelbeeren erhalten; die 100 ursprünglichen Stück plus 10 Stück als Prämie für den temporären Konsumverzicht. Menschen mit einer niedrigen Zeitpräferenz würden bereits für eine Kompensation von 5 Heidelbeeren den Konsum um ein Jahr verschieben.

Die relative Höhe dieser Kompensationszahlung entspricht einem häufig mißverstandenem ökonomischen Phänomen, dem Zins. Im ersten Fall beträgt somit der Zinssatz 10% pro Jahr, im zweiten Fall 5%. Der Zins als Ausdruck der für den temporären Konsumverzicht verlangten Kompensation ist somit Spiegelbild der individuellen Zeitpräferenzrate.


Zeitpräferenz und nachhaltiges Wachstum

Wie im Artikel "Keine Angst vorm Angstsparen" kurz angedeutet, kann nachhaltiger Wohlstand nur durch den temporären Verzicht auf Konsum aufgebaut werden. Robinson Crusoe legt Tat für Tag einen seiner 10 Äpfel zur Seite, um nach 9 Tagen einen Tag in die Entwicklung einer Leiter zu investieren. Diese Aufstiegshilfe erlaubt ihm ein schnelleres Kraxeln und er kann forthin 15 Äpfel pro Tag pflücken. Im Vergleich zum nichtsparenden Robinson, gewichtet der 9-Äpfel Robinson den heutigen Konsum relativ zum morgigen weniger stark. Dies macht er natürlich nur in dem Wissen um den zu erwartenden Anstieg des zukünftigen Konsumniveaus. Anders formuliert, je niedriger seine Zeitpräferenz, desto eher ist er bereit, das vom Hunger verursachte Unwohlsein zu ertragen.

Es ist seine persönliche Einstellung, seine Zeitpräferenz, die den Hunger erträglich macht oder eben nicht.

Mit seinem Verzicht auf den Konsum von einem Apfel pro Tag hat Robinson - und diesem Umstand kommt entscheidende Bedeutung zu - sein Verhalten grundlegend geändert. Er lebt nicht mehr von der Hand in die Mund, sondern plant langfristig.

Graphisch läßt sich dieser Zusammenhang wie folgt darstellen:

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Die individuelle Zeitpräferenz bestimmt ursächlich die Höhe des Zinses und den vorhandenen Kapitalstock. Ein Absinken der Zeitpräferenz vermindert den Zins und erhöht den Kapitalstock. Ein steigender Kapitalstock symbolisiert folglich eine zunehmende Zukunftsorientierung einer Person. (In der Graphik die Veränderung von der durchgezogenen Linie "Angebot" zu der gestrichelten Linie mit zwei dazwischenliegenden Punkten "Zeitpräferenz ".)

Analog verursacht ein Anstieg der Zeitpräferenz die Erhöhung des Zinses und die Reduktion des Kapitalstocks. Ein sinkender Kapitalstock verkörpert die zunehmende Gegenwartsorientierung des Individuums. (In der Graphik die Verschiebung von der durchgezogenen Linie "Angebot" zu der gestrichelten Linie mit einem dazwischenliegenden Punkt "Zeitpräferenz".)

Jeder der im Diagramm aufgezeichneten Kurven liegt ein bestimmtes Verhaltensmuster zugrunde. Die Veränderung der gesellschaftlichen Zeitpräferenzrate läßt sich somit auf unzählige Verhaltensänderungen von einzelnen Personen zurückführen. Diesen, die Zeitpräferenz des Individuums bzw. der Gesellschaft abbildenden, Zins nennt man den "natürlichen Zins."

Mit einem Vergleich aus der Evolution läßt sich der Zusammenhang zwischen der Zeitpräferenz und der relativen Weitsichtigkeit des Handlungshorizonts bildlich zusammenfassen:

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Tiere werden von ihren Instinkten getrieben. Diese Automatismen können nicht bewußt unterdrückt werden, um kurzfristige Kosten des Verzichts auf sich zu nehmen. Der Handlungshorizont ist sehr begrenzt, wie der Blickwinkel des Affen andeutet. Mit der fortscheitenden Selbstzivilisierung des Menschen erweitert sich zunehmend der Handlungshorizont des Menschen. Die animalischen Triebe, das Gesetz des Dschungels, weicht der Zivilisation, der friedlichen Kooperation unter Einhaltung allgemein gültiger Rahmenbedingungen. Je niedriger der "natürliche Zins", desto aufrechter der Gang, desto weitsichtiger der Blick.

Der ökonomische Zins faßt somit ein gesamtgesellschaftliches Wertesystem in Zahlen. Er ist nicht willkürlich und kann nicht ohne Folgewirkung vom Gesetzgeber verändert werden. Kein noch so mächtiger Herrscher kann Wachstum von oben verordnen. Es resultiert aus einer auf die Zukunft ausgerichteten Lebenseinstellung der Menschen.




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