Börsianer im Herdentrott
23.06.2019 | Manfred Gburek
Jede Börsenentwicklung hat ihre Eigenheiten. Die aktuelle ist besonders spannend, weil massive Kräfte mit voller Wucht auf sie einwirken: Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China einschließlich Kampf um seltene Erden, Elektromobilität, Künstliche Intelligenz, allseits lockere Geldpolitik, baldiges Ende der Ära Draghi, Null- bis Negativzinsen, Flucht vieler Anleger in Anleihen, zum Teil auch immer noch in Aktien, Gold auf dem Vormarsch und Iran-Konflikt.
Der amerikanisch-chinesische Wirtschaftskrieg dreht sich nicht nur um Zölle und Kontingente, sondern auch um strategisch wichtige Metalle, für die man den umfassenden Begriff seltene Erden erfunden hat. Dieser Krieg ohne Waffeneinsatz kann dazu führen, dass das globale Wirtschaftswachstum in eine Rezession umkippt, also in die milde Form einer Wirtschaftskrise. Schließlich werden seltene Erden ja als Rohstoffquelle für wichtige Industrien gebraucht, wie für die Elektronik und die Autobranche. Am Rande bemerkt: Der Soja-Export aus den USA nach China ist in relativ kurzer Zeit um 80 Prozent zusammengebrochen.
Die ultralockere Geldpolitik wirkt sich unmittelbar auf die Börsenentwicklung aus. Das lässt Börsianer zwischendurch immer wieder in Jubel ausbrechen - sei es, weil EZB-Präsident Mario Draghi weitere Anleihenkäufe in Aussicht stellt, sei es, dass Fed-Chef Jerome Powell eine Senkung des amerikanisches Leitzinses noch in diesem Jahr andeutet.
Soll man die Aussagen von Draghi, dessen Vertrag im Oktober ausläuft, überhaupt noch ernst nehmen? Sicher nicht, wenn man die von ihm inszenierte Lobhudelei um seine Person während der diesjährigen Sintra-Tagung in Portugal als Maßstab nimmt. Aber doch, was seine äußerst problematische finanzielle Erblast angeht, die der Feri-Anlagestratege Heinz-Werner Rapp so beschreibt: "Die EZB verliert sich immer mehr in einer Scheinrealität, die für jedes Problem nur eine Antwort hat: Geld zu drucken und so eine massive monetäre Verwässerung des gesamten Finanzsystems voranzutreiben."
Die Folgen haben sich teilweise bereits eingestellt. Zum Beispiel sind die Renditen zehnjähriger Staatsanleihen der Euroländer, auch die der von Griechenland, Italien und anderen Pappennheimern, auf das tiefste Niveau abgerutscht, seit es den Euro gibt - trotz zwischenzeitlicher Höchststände während der Griechenlandkrise von 2010 bis 2016. Mittlerweile "rentieren" deutsche Bundesanleihen sogar schon mit 15 Jahren Laufzeit im negativen Bereich bei minus 0,1 Prozent. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht absehbar. Zum Vergleich: Die höchste Minus-“Rendite“ werfen dreijährige Bundesanleihen mit aktuell minus 0,76 Prozent ab.
Auf Draghi und vor allem auf seinen Nachfolger kommen unlösbare Aufgaben zu. Aktuell gilt es, eine Rezession zu verhindern. Aber weil die Geldpolitik unter Draghis Regie schon ultralocker war und weiter ist, muss in zunehmendem Umfang die Fiskalpolitik einspringen - mit der Folge, dass die Staatshaushalte der Euroländer immer weiter ins Minus geraten. Immerhin gibt es auch eine lösbare Aufgabe. So dürfte es gelingen, die Eurozone trotz massiver Angriffe (wie zuletzt aus Italien) zusammenzuhalten. Im Zweifel wird die Gelddruckmaschine nochmals auf Touren gebracht.
Und wenn auch das nicht hilft? Dann beschließen Politiker und Zentralbanker beim nächsten Gipfel oder an einem geheimen Ort ein Programm, das sie anschließend so glaubwürdig wie möglich der Öffentlichkeit präsentieren. Dazu bestimmen sie einen Volkswirtschafts-Professor (noch besser: zwei oder drei), der glaubhaft zu machen versucht, dass eine neue Ära angebrochen sei.
So ist es zum Beispiel dem früheren US-Präsidenten Ronald Reagan gelungen, seine Politik mithilfe der Laffer-Kurve zu untermauern - nach dem Motto: Schulden sind kein Problem, falls sie das Wirtschaftswachstum fördern. Heute übernimmt die sogenannte moderne monetäre Theorie die Aufgabe, Freiräume für immer höhere Schulden zu erschaffen.
Sind die professionellen Anleger schon so blind gegenüber diesen Entwicklungen, dass sie sie einfach ignorieren? Nein, denn sie beteiligen sich an einem Spiel, das in der Anlagebranche gang und gäbe ist: Sie handeln mit Aktien und Anleihen, Derivaten und Termingeschäften, seit Kurzem sogar wieder mit Edelmetallen. Solange andere es auch tun, mag kommen was will.
Doch wehe, sie investieren antizyklisch und liegen damit falsch. Dann müssen sie sich über kurz oder lang einen neuen Job besorgen. Der Herdentrott ist also, menschlich gesehen, durchaus verständlich. Das heißt: Hat ein Fondsmanager sich beispielsweise zwischen einer zyklischen oder einer antizyklischen Anlage zu entscheiden, wählt er lieber die erste Alternative, weil sie ihm in der Regel einen sicheren Job garantiert.
Wie so etwas ausarten kann, zeigt ein Beispiel von der amerikanischen Börse zu Beginn der 70er Jahre. Damals erregten die nifty fifty (schmucke Fünfziger) besonders viel Aufsehen. Das waren total überbewerte rund 50 Aktien wie Avon Products, Estman Kodak oder Polaroid - aber deren Kurse wollten zunächst trotz Überbewertung einfach nicht fallen. Erst als immer mehr Fondsmanager aus dem Herdentrott auszubrechen begannen, sackten die Kurse in sich zusammen. Mit noch größerer Wucht erwischte es zu Beginn der 90er Jahre die Kurse an der Nasdaq-Börse in den USA und am Neuen Markt in Deutschland.
Obwohl der Goldpreis sich zu Beginn der 70er Jahre anschickte, inflationsbedingt zu steigen, diskutierten Fondsmanager noch eine ganze Weile mehr über die nifty fifty als über das Edelmetall. Ähnliches bahnt sich jetzt an, allerdings unter etwas anderen Vorzeichen: Aktien sind im Durchschnitt zwar hoch, aber nicht so stark überbewertet wie seinerzeit, die Inflation lässt auf sich warten, und einige Fondsmanager haben bereits 5 bis 10 Prozent in Gold investiert. Doch die Grundausrichtung ist heute wie damals gleich.
Warum kommt es an der Börse immer wieder zu Übertreibungen? Ist es nur die Gier, wenn die Kurse steigen, und die Angst, wenn sie fallen? Nein, es ist mehr; es ist eine Story, auf Aktien bezogen die Equity Story, auf alle anderen Anlagen bezogen die Story schlechthin. Beispiele außer den schon genannten: ETFs, Growth-, Value- und zyklische Aktien, Immobilien, Mischfonds, Schwellenländerfonds und nun immer mehr grüne oder Nachhaltigkeits-Anlagen, kräftig unterstützt durch Aufmärsche von Umweltaktivisten, wie schon wieder am vergangenen Wochenende.
Gold und Silber dürfen in dieser Aufzählung nicht fehlen - zumal ihre Story (nach der aus den 70er Jahren und nach der weiteren im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende) erst in den Anfängen steckt.
© Manfred Gburek
www.gburek.eu
Manfred Gburek ist neben seiner Funktion als Kolumnist privater Investor und Buchautor.
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Der amerikanisch-chinesische Wirtschaftskrieg dreht sich nicht nur um Zölle und Kontingente, sondern auch um strategisch wichtige Metalle, für die man den umfassenden Begriff seltene Erden erfunden hat. Dieser Krieg ohne Waffeneinsatz kann dazu führen, dass das globale Wirtschaftswachstum in eine Rezession umkippt, also in die milde Form einer Wirtschaftskrise. Schließlich werden seltene Erden ja als Rohstoffquelle für wichtige Industrien gebraucht, wie für die Elektronik und die Autobranche. Am Rande bemerkt: Der Soja-Export aus den USA nach China ist in relativ kurzer Zeit um 80 Prozent zusammengebrochen.
Die ultralockere Geldpolitik wirkt sich unmittelbar auf die Börsenentwicklung aus. Das lässt Börsianer zwischendurch immer wieder in Jubel ausbrechen - sei es, weil EZB-Präsident Mario Draghi weitere Anleihenkäufe in Aussicht stellt, sei es, dass Fed-Chef Jerome Powell eine Senkung des amerikanisches Leitzinses noch in diesem Jahr andeutet.
Soll man die Aussagen von Draghi, dessen Vertrag im Oktober ausläuft, überhaupt noch ernst nehmen? Sicher nicht, wenn man die von ihm inszenierte Lobhudelei um seine Person während der diesjährigen Sintra-Tagung in Portugal als Maßstab nimmt. Aber doch, was seine äußerst problematische finanzielle Erblast angeht, die der Feri-Anlagestratege Heinz-Werner Rapp so beschreibt: "Die EZB verliert sich immer mehr in einer Scheinrealität, die für jedes Problem nur eine Antwort hat: Geld zu drucken und so eine massive monetäre Verwässerung des gesamten Finanzsystems voranzutreiben."
Die Folgen haben sich teilweise bereits eingestellt. Zum Beispiel sind die Renditen zehnjähriger Staatsanleihen der Euroländer, auch die der von Griechenland, Italien und anderen Pappennheimern, auf das tiefste Niveau abgerutscht, seit es den Euro gibt - trotz zwischenzeitlicher Höchststände während der Griechenlandkrise von 2010 bis 2016. Mittlerweile "rentieren" deutsche Bundesanleihen sogar schon mit 15 Jahren Laufzeit im negativen Bereich bei minus 0,1 Prozent. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht absehbar. Zum Vergleich: Die höchste Minus-“Rendite“ werfen dreijährige Bundesanleihen mit aktuell minus 0,76 Prozent ab.
Auf Draghi und vor allem auf seinen Nachfolger kommen unlösbare Aufgaben zu. Aktuell gilt es, eine Rezession zu verhindern. Aber weil die Geldpolitik unter Draghis Regie schon ultralocker war und weiter ist, muss in zunehmendem Umfang die Fiskalpolitik einspringen - mit der Folge, dass die Staatshaushalte der Euroländer immer weiter ins Minus geraten. Immerhin gibt es auch eine lösbare Aufgabe. So dürfte es gelingen, die Eurozone trotz massiver Angriffe (wie zuletzt aus Italien) zusammenzuhalten. Im Zweifel wird die Gelddruckmaschine nochmals auf Touren gebracht.
Und wenn auch das nicht hilft? Dann beschließen Politiker und Zentralbanker beim nächsten Gipfel oder an einem geheimen Ort ein Programm, das sie anschließend so glaubwürdig wie möglich der Öffentlichkeit präsentieren. Dazu bestimmen sie einen Volkswirtschafts-Professor (noch besser: zwei oder drei), der glaubhaft zu machen versucht, dass eine neue Ära angebrochen sei.
So ist es zum Beispiel dem früheren US-Präsidenten Ronald Reagan gelungen, seine Politik mithilfe der Laffer-Kurve zu untermauern - nach dem Motto: Schulden sind kein Problem, falls sie das Wirtschaftswachstum fördern. Heute übernimmt die sogenannte moderne monetäre Theorie die Aufgabe, Freiräume für immer höhere Schulden zu erschaffen.
Sind die professionellen Anleger schon so blind gegenüber diesen Entwicklungen, dass sie sie einfach ignorieren? Nein, denn sie beteiligen sich an einem Spiel, das in der Anlagebranche gang und gäbe ist: Sie handeln mit Aktien und Anleihen, Derivaten und Termingeschäften, seit Kurzem sogar wieder mit Edelmetallen. Solange andere es auch tun, mag kommen was will.
Doch wehe, sie investieren antizyklisch und liegen damit falsch. Dann müssen sie sich über kurz oder lang einen neuen Job besorgen. Der Herdentrott ist also, menschlich gesehen, durchaus verständlich. Das heißt: Hat ein Fondsmanager sich beispielsweise zwischen einer zyklischen oder einer antizyklischen Anlage zu entscheiden, wählt er lieber die erste Alternative, weil sie ihm in der Regel einen sicheren Job garantiert.
Wie so etwas ausarten kann, zeigt ein Beispiel von der amerikanischen Börse zu Beginn der 70er Jahre. Damals erregten die nifty fifty (schmucke Fünfziger) besonders viel Aufsehen. Das waren total überbewerte rund 50 Aktien wie Avon Products, Estman Kodak oder Polaroid - aber deren Kurse wollten zunächst trotz Überbewertung einfach nicht fallen. Erst als immer mehr Fondsmanager aus dem Herdentrott auszubrechen begannen, sackten die Kurse in sich zusammen. Mit noch größerer Wucht erwischte es zu Beginn der 90er Jahre die Kurse an der Nasdaq-Börse in den USA und am Neuen Markt in Deutschland.
Obwohl der Goldpreis sich zu Beginn der 70er Jahre anschickte, inflationsbedingt zu steigen, diskutierten Fondsmanager noch eine ganze Weile mehr über die nifty fifty als über das Edelmetall. Ähnliches bahnt sich jetzt an, allerdings unter etwas anderen Vorzeichen: Aktien sind im Durchschnitt zwar hoch, aber nicht so stark überbewertet wie seinerzeit, die Inflation lässt auf sich warten, und einige Fondsmanager haben bereits 5 bis 10 Prozent in Gold investiert. Doch die Grundausrichtung ist heute wie damals gleich.
Warum kommt es an der Börse immer wieder zu Übertreibungen? Ist es nur die Gier, wenn die Kurse steigen, und die Angst, wenn sie fallen? Nein, es ist mehr; es ist eine Story, auf Aktien bezogen die Equity Story, auf alle anderen Anlagen bezogen die Story schlechthin. Beispiele außer den schon genannten: ETFs, Growth-, Value- und zyklische Aktien, Immobilien, Mischfonds, Schwellenländerfonds und nun immer mehr grüne oder Nachhaltigkeits-Anlagen, kräftig unterstützt durch Aufmärsche von Umweltaktivisten, wie schon wieder am vergangenen Wochenende.
Gold und Silber dürfen in dieser Aufzählung nicht fehlen - zumal ihre Story (nach der aus den 70er Jahren und nach der weiteren im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende) erst in den Anfängen steckt.
© Manfred Gburek
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Manfred Gburek ist neben seiner Funktion als Kolumnist privater Investor und Buchautor.
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