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Deutschland im Zangengriff

06.09.2020  |  Manfred Gburek
Was steckt hinter dem Konflikt zwischen Merkel und Putin einschließlich Gerangel um die unfertige Gaspipeline Nord Stream 2? Welche Motive verfolgt die Türkei mit ihren Aggressionen im östlichen Mittelmeer? Warum ist die türkische Lira schon wieder abgestürzt? Was gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen, um die brisantesten aktuellen Konflikte zu lösen, statt sie vor sich her zu schieben?

Die passenden Antworten sind grundsätzlich vorhanden; die Denkfabrik mit Namen Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) hat sie zusammengetragen und der Bundesregierung ins Stammbuch geschrieben. Doch die Bundeskanzlerin einschließlich der zuständigen Minister bleibt mit der Realisierung überfordert - allein schon deshalb, weil ihr die Zeit davongelaufen ist. Probate Konfliktlösungen sind über viele Jahre unter der Fuchtel des „Systems Merkel“ einfach ausgeblieben. Anlass genug, den Status quo unter die Lupe zu nehmen und die möglichen Konsequenzen aufzuzeigen.

DGAP-Präsident Thomas Enders, zuvor Chef des Airbus-Konzerns, fasst zusammen: "Es ist leicht, sich auszumalen, in welchem Zustand Europa sich im Falle eines Scheiterns seines Gemeinschaftsprojekts in zehn oder zwanzig Jahren befinden wird - nämlich innerlich zerrissen und machtlos zwischen Russland, China und möglicherweise weiteren aggressiven Mächten wie der Türkei. Dazu käme eine ehemalige Schutzmacht Amerika, die längst nicht mehr bereit ist, für die Sicherheit von 450 Millionen Europäern zu bürgen, wo diese nicht den politischen Willen aufgebracht haben, sich selbst zu schützen. In diesem Falle wäre dann auch die Nato nur noch ein Schatten ihrer selbst."

Eine zu düstere Prognose? Sicher nicht. Fassen wir deshalb wichtige Leitsätze zusammen: "Deutschland steht regelmäßig ohnmächtig am Zaun und muss zusehen, wie Akteure mit weniger Skrupeln und Vorfestlegungen sowie deutlich mehr Risikobereitschaft den Ausgang der Geschichte beeinflussen. - In das politische Handlungsvakuum innerhalb der EU treten Europas geopolitische Gegenspieler China und Russland. - Deutschland schiebt eine immer größer werdende Bugwelle ungelöster Probleme vor sich her - vom Balkan über Syrien und Atomwaffen bis zum Umgang mit chinesischer Technologie in deutscher Infrastruktur."

Ein besonderes Augenmerk richtet die DGAP auf den Konflikt zwischen der Türkei und Griechenland, in den Deutschland auf fatale Weise verwickelt ist: Die deutsche Regierung habe immer noch nicht begriffen, dass die Appeasement-Politik, also die Beschwichtigung, gegenüber dem türkischen Präsidenten nicht funktioniert. Derweil lässt dieser sein Land vor sich hin wirtschaften, als gäbe es kein Morgen - ohne Rücksicht auf die eigene Währung Lira, die wegen der Misswirtschaft in den freien Fall übergegangen ist.

"Das aggressive Verhalten der Türkei in der Ägäis erfordert die volle Unterstützung der EU für das Unionsmitglied Griechenland. Aber die Realität sieht leider anders aus. Bisher haben sich nur Frankreich, Italien, Österreich, Luxemburg und Zypern klar auf die Seite Griechenlands gestellt, Frankreich auch durch militärische Präsenz in der Region. Das ist ein Armutszeugnis für die EU - und für Deutschland.

Eine eindeutige Positionierung des wirtschaftlich stärksten EU-Mitglieds an der Seite Griechenlands würde den Aggressor mehr beeindrucken als eine unbestimmte Vermittlerrolle, die sich in Appellen an die beiderseitige Vernunft erschöpft. Der Migrationspakt mit der Türkei macht die EU erpressbar und lässt sich nur mit Milliardenzahlungen aus Brüssel aufrechterhalten."

Wohlgemerkt, dieses Zitat entstammt nicht der Phantasie irgendwelcher Scharfmacher, sondern der hier mehrfach zitierten, politisch orientierten deutschen Denkfabrik. Die kennt kein Pardon, wenn sie weiter mahnt: "Man schaue sich heute nur die beachtlichen Erfolge an, die Putin in den letzten zehn Jahren mit Waffengewalt erzielt hat; im Kaukasus, in der Ukraine und in Syrien. Und Erdogan scheint aus Putins Strategiebuch abzuschreiben. Er hat gerade einen Teil Syriens mit Waffengewalt an sich gerissen, liefert entgegen internationalen Absprachen Waffen nach Libyen und hat den Kurden den Krieg erklärt."

All das findet in deutschen Mainstream-Medien nur am Rande statt, zum Teil um Bilder von Kriegsschauplätzen oder aus griechischen Notunterkünften ergänzt. Politische Analysen und Kommentare sind da eher Mangelware. Warum hüllt sich die Bundesregierung weitgehend in Schweigen, warum mangelt es an öffentlicher Diskussion? Wahrscheinlich, weil sich im Vorfeld der kommenden Bundestagswahl eher mit Rentenversprechen und sonstigen Wohlstandsphrasen punkten lassen dürfte als mit scheinbar weit entfernten, in Wahrheit jedoch unter den Nägeln brennenden Konflikten.

Die Frage, die sich daran anschließt: Inwieweit werden die Bundesbürger bereit sein, den Versprechen der Politiker zu glauben? Es ist ja nicht von ungefähr so, dass immer mehr Bürger durch die Straßen ziehen, um ihrem Unmut Luft zu verschaffen und mehr oder weniger diffus gegen alles zu protestieren, was ihnen nicht passt. Bislang ist es dabei noch nicht zum Schlimmsten gekommen, wie zeitweise in Amerika. Doch das kann sich ändern, zum Beispiel dann, wenn die Konjunktur stockt und Arbeitsplätze wegfallen oder wenn die zuletzt extrem niedrige Inflationsrate zu steigen beginnt.

Allein schon von daher kann sich die Bundesregierung keinen zusätzlichen Unruheherd leisten, besonders keinen, der die Schwächen der deutschen Außenpolitik offenbart. Daraus folgt mit hoher Wahrscheinlichkeit: Die Türkei wird von der EU weiter mit Milliarden versorgt, die zu einem erheblichen Teil in Rüstungsgüter fließen.

Immerhin brüten jetzt ganze DGAP-Stäbe über einer Initiative mit dem Titel "Sicherheitspolitische Agenda 2021+". Sie soll den Weg in eine systematischere und aktivere Sicherheitspolitik ebnen, die Prävention aufgrund der Erfahrungen mit der Covid-19-Krise etablieren, die Zuständigkeiten auf sämtlichen politischen Ebenen reorganisieren und alle Bürger daran teilnehmen lassen. Es wird sich lohnen, die Entwicklung der Agenda penibel zu verfolgen - zumal das Pluszeichen hinter 2021 mit Sicherheit mehr als nur ein Jahr umfasst.


© Manfred Gburek
www.gburek.eu



Manfred Gburek ist neben seiner Funktion als Kolumnist privater Investor und Buchautor.

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