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Herbert Saurugg: Katastrophenwinter 2022/23 - Fiktion oder bald Wirklichkeit?

29.11.2022
- Seite 2 -
Fehlendes vernetztes Denken und Handeln

Eines der größten Probleme unserer Zeit ist unser lineares, einfaches Ursache-Wirkungs- oder Entweder-oder-Denken. Dieses hat uns über Jahrzehnte sehr erfolgreich gemacht, ist aber nicht dazu geeignet, komplexe Probleme zu bewältigen [vgl. etwa Lotter (2020), Thurner (2020)].

Denn wir haben durch die Vernetzung und Digitalisierung in den letzten Jahrzehnten ein unfassbar komplexes System geschaffen, das immer verwundbarer und fragiler wird. Während diese globalen Strukturen in stabilen Zeiten zum Wohlstand und zur wirtschaftlichen Prosperität beigetragen haben, werden sie in turbulenten Zeiten zu gefährlichen Sollbruchstellen.

Mit diesen Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeiten können wir mit unserem Schwarz-weiß-Denken häufig nur schlecht umgehen [vgl. Meadows (2010)]. Gleichzeitig haben in den vergangenen Jahren die Polarisierung und eine gesellschaftliche Spaltung nicht nur durch die Pandemie und den damit verbundenen Maßnahmen deutlich zugenommen. Eine beträchtliche Rolle spielen dabei auch die (Sozialen) Medien, welche von der Erregung und Zuspitzung leben und diese menschliche Schwäche zum Negativen ausnutzen [vgl. Bregman (2021)]. Diese verschärfen die Probleme und tragen nicht zur Lösung bei und stellen eine gefährliche Manipulation dar.

Anstatt dessen würden wir ein Sowohl-als-auch- oder vernetztes Denken in Zusammenhängen und Kooperation benötigen, um mit der steigenden Komplexität und den damit verbundenen Folgen und Nebenwirkungen umgehen zu können. Dazu müssten wir unseren Denkrahmen erweitern. Aber das Sowohl-als-auch-Prinzip darf wiederum nicht zu einer „alles ist möglich“ Mentalität führen, was wieder kontraproduktiv wäre. Es bedarf daher eines radikal neuen Ansatzes, um den neuen Herausforderungen adäquat zu begegnen, wie beispielsweise die Entwicklung einer "Metavernunft" [vgl. Bauer-Jelinek (2016)]: Differenzierung statt Dogmen.

Die Entscheidungsträger sind gefordert, die Fragen nach dem Ziel (wofür?), nach dem Ausmaß der Maßnahmen (wie viel?) und nach dem Verlust (zu welchem Preis) zu beantworten, bevor sie Lösungen bewerten. So können ohne Gesichtsverlust rasche Anpassungen an sich ständig ändernde Verhältnisse vorgenommen werden, ohne dem Vorwurf der Planlosigkeit ausgesetzt zu sein.

Das Problem beginnt hier jedoch bereits bei unserem Bildungssystem, das auf die alte industrielle Arbeitswelt fokussiert ist und den Anforderungen der Netzwerkgesellschaft kaum mehr gerecht wird [vgl. Saurugg (2012)].

Daher erscheint es nicht weiter verwunderlich, dass es offensichtlich schwerwiegender Krisen mit enormen Schäden benötigt, um durch den Druck von außen eine Anpassung zu erzwingen. Das ist eine äußerst unkluge Vorgehensweise, die durch unsere evolutionäre Prägung "Lernern aus Schaden" geleitet wird.

Was in der Vergangenheit erfolgreich war ("Selektion"), könnte in unserer heutigen, hoch wechselseitig abhängigen Welt und Versorgungslogistik rasch ein dramatisches Ende nehmen. Auch dazu gibt es genügend systemisch fundiertes und wissenschaftlich belegtes Wissen [vgl. etwa Bardi (2017), Casti (2012), CSH (2020), Meadows (1973), Servigne (2020), Thurner (2020)], das weder etwas mit den steigenden Verschwörungsmythen noch mit sonstigen Untergangspropheten zu tun hat.

Auch hier hindert uns unser Entweder-oder-Denken eine richtige und nützliche Einordnung vorzunehmen. Gerne wird alles schnell in dieselbe Ecke gestellt. Eine gefährliche Kurzsichtigkeit, die uns nicht erst einmal ins Verderben geführt hat. Daher sind gerade zahlreiche Parallelen zu den "Schlafwandlern" des 20. Jahrhunderts zu beobachten [vgl. Clark (2013)]. Wiederholen sich die Muster der Geschichte? Gut möglich.


2.2. Der Ukraine-Krieg und seine Folgen

Bestand noch bis Mitte Februar 2022 die Hoffnung, dass die Pandemie in naher Zukunft enden könnte und dass damit eine Rückkehr in eine Zeit wie vor 2020 möglich sei, wurde diese mit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 schlagartig zerstört und eine neue, bisher kaum für möglich gehaltene Dimension der Eskalation erreicht, welche das weiterhin vorhandene Pandemiegeschehen in den Hintergrund gedrängt hat.

Während noch immer viele Menschen und Verantwortungsträger meinen, dass es sich um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten handle, die wenig konkrete Auswirkungen auf uns habe, könnte uns die Realität rascher einholen, als wir das derzeit für möglich halten. Denn wie sich bereits im Sommer 2022 abzeichnet, gehen die europäischen Sanktionen nach hinten los. Viele gewaltige Nebenwirkungen wurden offensichtlich nicht bedacht oder nicht bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt.

Die bisherige Annahme, dass eine enge wirtschaftliche Vernetzung Kriege verhindern könnte, wurde nicht nur widerlegt, sondern führt auch zu einem globalen Chaos in den hoch synchronisierten und optimieren Logistikketten. Die tatsächlichen Folgen sind noch nicht absehbar, aber vieles deutet auf einen möglichen verheerenden Katastrophenwinter 2022/23 hin. Eine mögliche Lebensmittelversorgungskrise ist schon breiter in der Öffentlichkeit angekommen [vgl. CSH (2022)]. Diese würde zunächst einmal andere Weltregionen, insbesondere den Nahen Osten und Afrika treffen.

Die damit ausgelösten sozialen Unruhen können wiederum zu einer erneuten Migrationsbewegung führen, die erst 2023 oder später in Europa ankommt. Aber auch die massiven Verwerfungen am Energiemarkt werden nicht ohne Folgen bleiben.

Was noch nicht allgemein bekannt zu sein scheint, ist, dass keine Gesellschaft ohne ausreichender und leistbarer Ressourcen und hier primär Energie überlebensfähig ist. War das in der Vergangenheit häufig ein schleichender und länger andauernder Prozess [vgl. Bardi (2017), Casti (2012), Servigne (2020)], könnte das heute durch die sehr hohen Abhängigkeiten von Logistikketten [vgl. CSH (2020)] sehr rasch zu einem unfassbarem überregionalen oder sogar globalen Chaos führen.

Dies auch deshalb, da es aufgrund der extremen betriebswirtschaftlichen Optimierungen in den vergangenen Jahrzehnten [vgl. Dueck (2015)] kaum mehr wo Rückfallebenen gibt, um mit derart schwerwiegenden Verwerfungen umgehen zu können. Eine moderne und völlig von einer funktionierenden Energie- und Telekommunikationsversorgung abhängige Hochleistungsgesellschaft ist deutlich verwundbarer als viele andere Weltregionen. Das scheint vielen Akteuren noch nicht wirklich bewusst zu sein, denn sonst hätte es nicht so weit kommen dürfen.

Daher besteht der Eindruck, dass die Sanktionen gegen Russland in bester QaD-Lösungsmanier, ohne ausreichender Nebenwirkungsabschätzung erfolgt sind. Anders lassen sich viele Entscheidungen kaum erklären. Der Einmarsch konnte sicher nicht ohne Konsequenzen hingenommen werden. Aber wenn man sich von der überlebensnotwendigen Energieversorgung abschneidet und glaubt, dass derart massive Energieflüsse in kurzer Zeit kompensiert werden können, dann zeigt das nicht unbedingt von Sachverstand oder Weitblick.

Dass eine kurzfristige Änderung der Energieversorgung aus technischen und infrastrukturellen Gründen nicht machbar ist, sollte der Hausverstand sagen. Daran ändern auch hochtrabende und markige Ansagen nichts. Die Physik lässt nicht mit sich verhandeln. Auch die gesamte europäische Energiewende ist von vielen Wunschvorstellungen geprägt, die der harten Realität der Physik nicht standhalten können. Dazu später mehr.

Wie sich abzeichnet, wird Präsident Putin nicht davor zurückschrecken, die hohen Abhängigkeiten von russischen Ressourcen und insbesondere Energie auch als Waffe und Druckmittel gegen die EU einzusetzen. Das wurde bei den Sanktionen und in den Jahren davor offensichtlich übersehen, was wohl auch daran liegen mag, dass es scheinbar kaum entsprechende Frühwarnsysteme gab und gibt. Denn sonst hätte alles darangesetzt werden müssen, um eine Eskalation dieses Konfliktes zu verhindern.

Möglicherweise hat eine gewisse Überheblichkeit und Truthahn-Illusion mitgewirkt, frühe Warnhinweise [Weik (2012] zu ignorieren. Spätestens im Juli 2021 hätten die Alarmglocken läuten müssen, als die mitteleuropäischen Gasspeicher, die von der Gazprom genutzt wurden, nicht mehr wie üblich gefüllt wurden. Wobei offen bleibt, ob das schon ein Anzeichen für den Krieg war, oder die Speicher für noch billigeres Gas über Nord Stream 2 freigehalten wurden. Auch das wäre eine Möglichkeit.

Andere Warnungen, die bereits vor Jahren ausgesprochen wurden, nicht alles auf eine Karte, sondern auf Diversität sowohl bei den Anbietern als auch bei den Technologien oder Energieformen zu setzen, wurden ebenfalls ignoriert. Unsere einseitigen Abhängigkeiten wurden noch deutlich erhöht. Auch der generelle Ausverkauf von Kritischen Infrastrukturen ging munter weiter, ohne sich ernsthaft über mögliche negative Konsequenzen Gedanken zu machen. Wobei es hier nie um die Schuld von einzelnen Akteuren geht, da auch Dulden mitschuldig macht. In vielen Bereichen wurde und wird weiterhin einfach weggeschaut und auf die Profitmaximierung geachtet.


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