Herbert Saurugg: Katastrophenwinter 2022/23 - Fiktion oder bald Wirklichkeit?
29.11.2022
- Seite 5 -
Verheerende Folgen eines BlackoutsDie wirkliche Gefahr eines Blackouts geht nicht vom Stromausfall aus, sondern von den daraus folgenden und länger andauernden Versorgungsunterbrechungen in allen Lebensbereichen, die unsere heutige (unvorbereitete) Gesellschaft binnen weniger Tage an den Rand des Kollapses bringen könnten.
Auch ein nur Stunden andauernder großflächiger – über mehrere Staaten reichender – Stromausfall hätte bereits das Potenzial, schwerste Folgeschäden in der Produktion und Logistik auszulösen, da weder die Bevölkerung noch die Unternehmen noch der Staat auf ein solches Ereignis vorbereitet sind, wie bereits 2010 in der Studie des deutschen Büros für Technikfolgenabschätzung "Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen und langandauernden Ausfalls der Stromversorgung" festgehalten wurde:
"Aufgrund der nahezu vollständigen Durchdringung der Lebens- und Arbeitswelt mit elektrisch betriebenen Geräten würden sich die Folgen eines langandauernden und großflächigen Stromausfalls zu einer Schadenslage von besonderer Qualität summieren. Betroffen wären alle Kritischen Infrastrukturen, und ein Kollaps der gesamten Gesellschaft wäre kaum zu verhindern. Trotz dieses Gefahren- und Katastrophenpotenzials ist ein diesbezügliches gesellschaftliches Risikobewusstsein nur in Ansätzen vorhanden." [Petermann et al. (2010)] S. 4.
"Die Folgenanalysen haben gezeigt, dass bereits nach wenigen Tagen im betroffenen Gebiet die flächendeckende und bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit (lebens)notwendigen Gütern und Dienstleistungen nicht mehr sicherzustellen ist." [Petermann et al. (2010)] S. 15. Die gesellschaftliche Verwundbarkeit hat jedoch in den vergangenen 10 Jahren erheblich zugenommen. Der Vorsorgegrad ist tendenziell gesunken, insbesondere in den Organisationen, Unternehmen, aber auch beim Staat, da aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen Rückfallebenen, Reserven und Lager häufig als "totes Kapital" eingespart wurden. Erst dadurch wird ein mögliches Blackout zur völlig unterschätzten Katastrophe.
Während ein Stromausfall in Österreich nach rund ein bis zwei Tagen behoben sein könnte, rechnet man auf europäischer Ebene mit rund einer Woche, bis wieder überall der Strom fließt. Österreich wie auch die Schweiz können mit den Pumpspeicherkraftwerken wesentlich rascher wieder ein Netz aufbauen als etwa Deutschland. Ganz abgesehen von der unterschiedlichen Ländergröße und dem damit verbundenem deutlich höheren Koordinierungsaufwand.
Die Folgewirkungen werden jedoch Monate und länger anhalten. So ist etwa zu erwarten, dass es zumindest mehrere Tage nach dem Stromausfall dauern könnte, bis Handy, Festnetz und Internet wieder breiter verfügbar sein werden. Damit gibt es bis dahin in der Regel weder eine Produktion noch Logistik oder Treibstoffversorgung. Diese werden voraussichtlich erst in der zweiten Woche wieder umfassender anlaufen können.
Bis dahin haben aber bereits 6 Millionen Menschen in Österreich nichts mehr zu Essen und sie sehen, dass die Supermärkte leer oder möglicherweise sogar zerstört sind und dass nichts kommt [Kleb et al (2015)]. Besonders kritisch ist das beim Personal der Einsatzorganisationen oder der organisierten Hilfe, aber auch bei jenen Unternehmen, welche wieder möglichst rasch eine Notproduktion starten müssen. Wenn Menschen hungern und sich zu Hause in der Krise befinden oder keinen Treibstoff bekommen, werden sie nicht in die Arbeit kommen. Damit wird eine rasche Wiederversorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen nicht gelingen. Ein Teufelskreis, der dann kaum mehr zu durchbrechen ist.
Dabei könnte eine vorgesorgte Gesellschaft mit einem solchen Szenario gut umgehen: Wenn sich möglichst viele Menschen zumindest 14 Tage mit dem notwendigsten selbst versorgen könnten, könnte auch rasch wieder eine Notversorgung hochgefahren werden. Dazu fehlt aber bisher eine umfassende und aufklärende Sicherheitskommunikation [vgl. Giebel (2012)]. Im Gegenteil: Die Gefahr einer möglichen Gasmangellage mit all den absehbaren Folgen wird weiterhin heruntergespielt. Damit wird den Menschen die Möglichkeit genommen, sich ernsthaft und rechtzeitig mit der Vorsorge zu beschäftigen. Erst diese Ausgangslage kann in einen wirklichen Katastrophenwinter 2022 führen.
4. Fazit
Mit dem Einmarsch der Streitkräfte der Russischen Föderation in die Ukraine am 24. Februar 2022 erlebt die Welt eine für viele überraschende Zäsur mitten in Europa. Seit damals tobt ein Krieg in einer militärischen Qualität, wie sie für die meisten Menschen in Mitteleuropa nicht mehr vorstellbar war. Der Einsatz mechanisierter Verbände, massiver Artillerieeinsatz und der bis jetzt kaum gekannte Einsatz ballistischer Raketen gehört nun zum Alltag in der Ukraine.
Davor führte uns bereits die Coronakrise und ihre Folgen drastisch vor Augen, dass das Unerwartete eintreten kann. Und wenn ein Ausnahmeereignis eintritt, dann bleibt keine oder kaum mehr Zeit, um sich darauf vorzubereiten. Man ist gezwungen, die auftretende Herausforderung mit jenen Mitteln zu bewältigen, die einem zur Verfügung stehen. Das verteidigungspolitische Risikobild des Österreichischen Bundesheeres bewertet seit Jahren die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Blackouts in den nächsten Jahren als nahezu sicher. Die besondere Komplexität eines Blackouts besteht in der Gleichzeitigkeit und dem sofortigen Eintritt der Ereignisse und Schäden ohne Vorwarnung.
Ein Blackout resultiert in einem, unmittelbar überregionalen auftretenden, weite Teile des europäischen Kontinents betreffenden, und länger andauernden Strom-, Infrastruktur-, sowie Versorgungsausfall. Ein Blackout kann absichtlich (z. B. durch einen Angriff) oder durch Netzinstabilitäten – wodurch auch immer ausgelöst – erfolgen. Dies inkludiert auch mögliche, aus dem Konflikt in der Ukraine entstehende Folgen. Bedenken wir, dass das ukrainische Stromnetz seit den ersten Wochen des Krieges mit unserem kontinentaleuropäischen Verbundsystem verbunden ist.
Die Folgen eines Blackouts oder auch einer schwerwiegenden Gas- und Strommangellage würden unsere Gesellschaft als Gesamtes überfordern. Gleichzeitig gibt es eine Vielzahl an falschen Erwartungen in die Leistungsfähigkeit "des Staates" oder genauer gesagt, an dessen Organe.
Aber auch die Resilienz der staatlichen Institutionen ist nicht besonders hoch, wie bereits 2015 die Flüchtlingskrise oder 2020 folgend die Pandemie gezeigt haben [vgl. etwa Rechnungshof (2022)]. Dabei ist unter Resilienz nicht, wie häufig angenommen wird, nur die Widerstandsfähigkeit, sondern auch eine Anpassungs- und Lernfähigkeit zu verstehen, was gerne ausgeblendet wird. Also auch der Umgang mit bereits eingetretenen Ereignissen und im Idealfall eine Anpassung vor dem Schaden durch eine entsprechende Antizipation, also Vorwegnahme von möglichen Entwicklungen.
Hier fehlt uns aber offensichtlich in sehr vielen Bereichen die Krisenfitness. Die Herstellung der Eigenversorgungsfähigkeit von Polizeidienststellen oder Bundesheerkasernen bis 2024 oder später sowie das noch zu implementierende Krisensicherheitsgesetz sind zwar ein wichtiger Beginn, werden uns aber im möglichen Katastrophenwinter 2023 nicht besonders weiterhelfen.
Das bedeutet, dass wir als Gesellschaft, als Individuen, Kommunen, Unternehmen etc. bei einer derart schwerwiegenden, großflächigen und länger andauernden Krisenlage weitgehend auf uns selbst gestellt sein werden. Daran würden auch bestens ausgerüstete und vorbereitete Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) nur wenig ändern können. Denn niemand kann in einer solch unfassbaren Lage Millionen Menschen helfen.
Damit soll niemand aus der Verantwortung genommen werden, denn es braucht immer alle Kräfte und Ressourcen, um eine solche Krise bewältigen zu können. Dies ist aber bisher noch wenigen Menschen wirklich bewusst und klar. Daher entscheidet auch eine entsprechend fundierte Sicherheitskommunikation im Vorfeld über den Krisenverlauf. Denn die Krisenfitness beginnt im Kopf und in dezentralen funktionalen Einheiten.
In den 1970er-Jahren wurde die Umfassende Landesverteidigung (ULV) als ein sehr ganzheitlicher Ansatz entwickelt, um mit den erwartbaren Bedrohungen des Kalten Krieges umgehen zu können. Auch wenn sich das Wording deutlich überholt hat, die Grundidee hat weiterhin volle Gültigkeit und sollte dringend reaktiviert werden. Deren wesentliche Eckpfeiler sind neben der Militärischen (MLV) und Zivilen (ZLV) vor allem die Geistige (GLV) und Wirtschaftliche Landesverteidigung (WLV).
Der Erfolg all dieser Maßnahmen wird im Wesentlichen von uns selbst abhängen. Wenn wir selbst bereit sind, uns auf die Möglichkeit der dargestellten Szenarien einzulassen, und wenn wir beginnen vorausschauende Handlungen im eigenen Bereich zu setzen, werden wir resilient genug sein, um gemeinsam die Herausforderungen bewältigen zu können. Es heißt also, jetzt das Unmögliche zu denken und sich darauf vorzubereiten.
Resilienz und Krisenfitness beginnt in unseren Köpfen. Erst wenn wir die zukünftigen Herausforderungen akzeptieren und antizipieren, werden wir sie lösen können, wofür aber kurzfristig die Zeit nicht mehr ausreichen wird, um sich fundiert auf einen möglichen Katastrophenwinter 2022/23 vorzubereiten. Nichtsdestotrotz müssen wir noch jede Möglichkeit nutzen.
© Herbert Saurugg, Dr. Markus Reisner
www.saurugg.net