Suche
 
Folgen Sie uns auf:

Herbert Saurugg: Katastrophenwinter 2022/23 - Fiktion oder bald Wirklichkeit?

29.11.2022
- Seite 3 -
Unsere enorme gesellschaftliche Verwundbarkeit ist insbesondere durch die sehr einseitige betriebswirtschaftliche Optimierung und Effizienzsteigerung sowie durch das sehr kurzsichtige Handeln entstanden. Alles, was nicht unmittelbar zum Kernprozess beigetragen hat, wurde outgesourct oder als "totes Kapital" eingespart [Dueck (2015)]. Das wurde auch am Beginn der Pandemie sichtbar, als es zu erheblichen Problemen bei der Versorgung mit wichtigen und kritischen Gütern kam.

Hat sich zwischenzeitlich etwas merklich geändert? Eher nicht. Immer mehr Logistikketten gehen an ihr Limit und eine folgenschwere Kettenreaktion wird immer absehbarer [CSH (2020)]. Die aktuellen Lieferschwierigkeiten sind wahrscheinlich nur ein Vorgeschmack.

Allerdings hätten wir bereits von vergangenen Konflikten und Sanktionen wissen können, dass Sanktion praktisch nie ihr Ziel erreicht, aber so gut wie immer große Schäden angerichtet haben. Es darf daher an unserer Lernbereitschaft und -fähigkeit gezweifelt werden.


2.3 Eine realistische Gasmangellage

Zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrages, Juli 2022, befand sich die Gaspipeline Nord Stream 1 in Wartung und lieferte kein Gas nach Mitteleuropa. Vielerorts wird befürchtet, dass nach der Beendigung der Wartung die Lieferungen nicht wieder aufgenommen werden könnten, was aber nicht eingetreten ist. Aber es besteht keine Garantie, dass sie nicht noch zu einem späteren Zeitpunkt unterbrochen wird. Auch über den wichtigen österreichischen Gasknoten Baumgarten hätte mit Wartungsbeginn eine größere Menge an Gas ankommen sollen. Das Gegenteil ist passiert, der Zufluss wurde deutlich reduziert.

In der Politik und Verwaltung werden die Folgen einer möglichen Gasmangellage häufig unterschätzt. Auch hier handelt es sich um ein hochkomplexes System, das mit einfachen Verwaltungseingriffen ("Energielenkung") kaum beherrschbar sein wird. Diese Feststellung wurde etwa bereits nach der deutschen länderübergreifenden Übung (LÜKEX 2018) "Gasmangellage in Süddeutschland" getroffen. Haben wir daraus gelernt? Nicht wirklich. Dabei war das Übungsszenario im Vergleich zur heutigen Reallage noch überschaubar und auf einzelne Teilaspekte eingeschränkt.

Eine absehbar notwendige Energielenkung würde daher zu einem kaum absehbarem Chaos führen, wie das etwa die Erkenntnisse der Schweizer Sicherheitsverbundübung 2014 nahelegen. Dabei ging es im damaligen Szenario "nur" um eine Pandemie mit folgendem Blackout und einer Strommangellage. Das Szenario Katastrophenwinter 2022/23 umfasst noch deutlich mehr Dimensionen, die sich bisher wohl kaum jemand gemeinsam vorstellen konnte. Hätte man ein derartiges Übungsszenario angelegt, wäre man wohl für verrückt erklärt worden.


3. Ausblick

3.1 Katastrophenszenario Winter 2022/23


Im Allgemeinen ist bekannt, dass Vorhersagen schwierig sind, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen. Dennoch sollten wir uns mit möglichen Entwicklungen und Szenarien beschäftigen, um rechtzeitig unsere Handlungsfähigkeit und -kompetenzen zu stärken und um uns auf unerwartete Ereignisse vorzubereiten [vgl. Weik (2013)]. Es kann natürlich alles ganz anders kommen.

Aufgrund der bisherigen Entwicklungen sollten wir uns als Gesellschaft auf eine mögliche Gasmangellage in Mitteleuropa vorbereiten. Abgetrenntes und kleinkariertes Denken verhindert dies jedoch in den meisten Bereichen. Jetzt ist erst einmal Sommer- und Urlaubszeit angesagt. Parallelen zum Sommer 1914 tun sich auf, wo man sich im Juli auch noch nicht vorstellen konnte, dass in Kürze der Erste Weltkrieg beginnen könnte.

Was bei der Gasversorgung häufig übersehen wird, ist, dass es nicht nur um die Themen Heizen oder Kochen geht, wie das in den Medien von gewissen Akteuren gerne vermittelt wird. Auch nicht nur um die Industrie oder eine Rezession, sondern weit schlimmer, um einen möglichen gesellschaftlichen Kollaps.


Gasverbundsystem mit hohen Abhängigkeiten

Österreich verfügt - wie auch andere Staaten - nicht über ein rein nationales Gasversorgungssystem, sondern ist Teil eines europäischen Verbundsystems, auch wenn dieses nicht wie das Stromversorgungssystem hochgradig vernetzt ist. In den nationalen Speichern ist auch Gas andere Länder gespeichert, da diese über keine eigenen Speicher verfügen. Westösterreich wird wiederum von Deutschland aus versorgt.

Das Ganze wird über einen internationalen Markt abgewickelt. Das gespeicherte Gas gehört uns daher nicht unbedingt, auch wenn das in den Medien gerne so dargestellt wird. Natürlich könnte dieses beschlagnahmt werden, womit aber die europäische Solidarität sehr rasch zu Ende wäre und ein noch viel größeres Chaos drohen würde. Ungarn hat dies bereits vorgemacht. Kein Mitgliedsstaat ist heute autark überlebensfähig, was gerne vergessen oder ausgeblendet wird.

Gerät das Verbundsystem durch massive Druckabfälle aus dem Gleichgewicht, weiß niemand, was wirklich konkret passieren wird. Ein instabiles System neigt im Generellen zum Chaos. Es wäre auf jeden Fall mit einer langen Wiederherstellungszeit zu rechnen. Gasspeicher könnten sogar unbrauchbar werden. Würde etwa der Druck auf der untersten Ebene, also bei den Haushalten zu weit absacken, würden Sicherheitsventile ausgelöst werden, woraufhin jeder einzelne Haushalt manuell wieder ans Gasnetz genommen werden müsste. Dem könnte durch eine Stromflächenabschaltung begegnet werden, wodurch das Gasnetz in Takt bleibt und nur "eingefroren" wird, womit möglicherweise ein geringerer Schaden entstehen würde.

Ganz abgesehen davon, dass die Strom-, Lebensmittelproduktion und die chemische Industrie hochgradig von der Verfügbarkeit von Gas abhängig sind. Können Vorläuferstoffe oder Produkte nicht mehr bereitgestellt werden, droht rasch ein Lieferkettenkollaps [CSH (2020)]. Selten sind klare Unterscheidungen zwischen wichtig und nicht wichtig möglich und gibt es keine technische Trennung, die eine derartige granulare Steuerung ermöglichen würde. Beispielsweise könnten dadurch etwa in Molkereien Tonnen von Milch nicht verarbeitet werden, sondern müssten entsorgt werden.

Die Produkte einer Süßwarenfabrik wären grundsätzlich nicht überlebenswichtig. Wenn aber mit der Abwärme der Produktion 800 Wohnungen beheizt werden, hat das eine hohe Relevanz. Nur ein Beispiel von vielen. Auch in der Arzneimittelherstellung gibt es viele unterschätzte Abhängigkeiten. Eine unterkomplexe QaD-Lösung kann daher rasch ein noch viel größeres Chaos auslösen, wie etwa auch die Nichtlieferbarkeit von Kabelbäumen für die Autoindustrie aus der Ukraine gezeigt hat.


Strommangellage

Eine mögliche Strommangellage gilt bereits seit Längerem als wahrscheinlichste vernetzte Krise. In dieser vernetzten Dimension hat sich das aber wohl noch niemand wirklich vorstellen können. Denn eine eskalierende Gasmangellage würde unmittelbar dazu führen, dass durch den sinkenden Druck die für die Stromnetzstabilität erforderlichen Gaskraftwerke nicht mehr ausreichend versorgt werden können. In den ersten Monaten 2022 wurden in Österreich bis zu 30 Prozent des Stromes aus Gaskraftwerken bereitgestellt. Zusätzlich ist Österreich im Winter großer Stromimporteur. Ohne Stromrationierung ("Energielenkung") wäre ein Winter mit zu wenig Gas kaum beherrschbar.

Alldem nicht genug, zeichnet sich bereits im Sommer 2022 eine schwere Strommangellage für den kommenden Winter in Frankreich ab. Hier sind die Strompreise für das 4. Quartal 2022 im Futuremarkt bereits auf bis zu 1.800 EUR pro Megawattstunde (MWh) explodiert. Letztes Jahr lag der Preis dafür unter 100 EUR.

Mit dem aktuellen europäischen Strommarktdesign, das für stabile Zeiten mit großen Überkapazitäten konzipiert wurde, werden nun auch noch große physische Lastflüsse provoziert. Der Stromhandel versucht definitionsgemäß dorthin zu verkaufen, wo am meisten bezahlt wird. Dafür wurde die Stromversorgungsinfrastruktur jedoch nie ausgelegt und stößt bereits heute immer häufiger an Limits. Durch die fehlende Netzinfrastrukturanpassung muss mit steigenden Aufwänden ("Redispatch-Eingriffe") die Netzstabilität entgegen den Marktwünschen aufrechterhalten werden.

Auch in Deutschland zeichnet sich eine Strommangellage ab, vor der der deutsche Bundesrechnungshof bereits im März 2021 gewarnt hat [Bundesrechnungshof (2021)]. Damals wurde jedoch nur der Atom- und Kohleausstieg in die Problembeurteilung einbezogen. Jetzt kommen auch noch eine mögliche Gasmangellage und ein möglicher Kohleengpass hinzu. Denn es sollten neben den letzten drei Kernkraftwerken auch eine Reihe von Kohlekraftwerken bis Jahresende stillgelegt werden. Andere wurden bereits ein Jahr davor im großen Stil vom Netz genommen. Gleichzeitig wurde ein Kohleembargo auf die russische Steinkohle verhängt, welche jetzt erst aus Brasilien oder Australien beschafft werden muss.


Bewerten 
A A A
PDF Versenden Drucken

Für den Inhalt des Beitrages ist allein der Autor verantwortlich bzw. die aufgeführte Quelle. Bild- oder Filmrechte liegen beim Autor/Quelle bzw. bei der vom ihm benannten Quelle. Bei Übersetzungen können Fehler nicht ausgeschlossen werden. Der vertretene Standpunkt eines Autors spiegelt generell nicht die Meinung des Webseiten-Betreibers wieder. Mittels der Veröffentlichung will dieser lediglich ein pluralistisches Meinungsbild darstellen. Direkte oder indirekte Aussagen in einem Beitrag stellen keinerlei Aufforderung zum Kauf-/Verkauf von Wertpapieren dar. Wir wehren uns gegen jede Form von Hass, Diskriminierung und Verletzung der Menschenwürde. Beachten Sie bitte auch unsere AGB/Disclaimer!




Alle Angaben ohne Gewähr! Copyright © by GoldSeiten.de 1999-2024.
Die Reproduktion, Modifikation oder Verwendung der Inhalte ganz oder teilweise ohne schriftliche Genehmigung ist untersagt!

"Wir weisen Sie ausdrücklich auf unser virtuelles Hausrecht hin!"