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Herbert Saurugg: Katastrophenwinter 2022/23 - Fiktion oder bald Wirklichkeit?

29.11.2022
- Seite 4 -
Daher hat auch die Betriebssicherheit drastisch abgenommen, weil niemand in Anlagen investiert, die ohnehin in Kürze stillgelegt werden. Zum anderen fehlt jetzt vielerorts die Kohle, welche ebenfalls aus Russland importiert wurde. Diese muss jetzt erst in anderen Weltregionen beschafft und nach Deutschland transportiert werden. Hier kommt das nächste Problem ins Spiel: durch die extreme Trockenheit kann die Kohle wahrscheinlich nur eingeschränkt auf den Flüssen zu den Kraftwerken transportiert werden. Alternative Lieferwege oder Transportkapazitäten gibt es kaum.

Die hohe Trockenheit und die damit verbundenen geringen Pegelstände haben bereits im Sommer 2022 die Stromproduktion in vielen Ländern stark eingeschränkt. Laufwasserkraftwerke können nicht mehr produzieren und thermische Kraftwerke wie etwa Atomkraftwerke in Frankreich oder der Schweiz können nicht mehr ausreichend gekühlt werden und müssen ihre Produktion drastisch reduzieren. Gleichzeitig wurde fast die Hälfte der französischen Kernkraftwerke bis voraussichtlich Jahresende aus Sicherheitsgründen oder zur Wartung vom Netz genommen.

Auch in anderen Ländern leidet die Stromproduktion aus Laufwasserkraftwerken unter der extremen Trockenheit und könnte im kommenden Winter zusätzlich zu einer verringerten Stromproduktion beitragen, wie etwa bereits jetzt ganz massiv in Norditalien.

Es erscheint daher mehr als angebracht, sich auf eine mögliche Strommangelbewirtschaftung im kommenden Winter mit weitreichenden Folgen vorzubereiten. Denn es geht nicht nur um geplante, rollierende Stromabschaltungen ("rollierende Blackouts"), sondern um schwerwiegende Versorgungsengpässe und -ausfälle.


3.2 Schwerwiegende Versorgungskrisen

Dazu im Zwischenbericht der Schweizer Sicherheitsverbundübung 2014 (SVU’14):

Nicht der Stromausfall, sondern die lang andauernde Strommangellage zeichnet sich als grösste Herausforderung im Szenario der SVU 14 ab. Ein Totalausfall gewisser kritischer Infrastrukturen ist sehr wahrscheinlich, denn weniger Strom heisst oft nicht, dass weniger geht, sondern, dass gar nichts geht. Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) steuern wichtige Systeme (Transport, Telefonie, Lagerhaltung, Zahlungsverkehr etc.). Nichts geht heute mehr ohne IKT, aber ohne Strom geht IKT nicht. In dieser Situation sind Diesel oder andere Treibstoffe als Ersatz für lokale Stromproduktion unabdingbar.

Die Aufrechterhaltung der Grundversorgung der Bevölkerung mit Gebrauchs- und Verbrauchsgütern wird sehr schnell zentral und sehr schwierig machbar. Da zudem die üblichen Kommunikationswege sehr eingeschränkt sind, ist eine langandauernde Strommangellage nicht zu unterschätzen, sondern eine Herkulesaufgabe für alle Beteiligten.

Wäre das alles noch nicht genug, sollte in den kommenden Monaten auch mit Problemen bei der Treibstoffversorgung gerechnet werden. Nicht nur durch den Zwischenfall in der Raffinerie Schwechat im Juni 2022. Auch sonst wird dieses System bereits in vielen Regionen am Limit betrieben. Hinzu kommt, dass immer mehr Lieferketten gestört und Waren oder Produktbestandteile nicht mehr lieferbar sind, auch weil etwa in Deutschland zehntausende Lkw- und Bus-Fahrer sowie Lokführer fehlen, womit ganze Lieferketten aus dem Gleichgewicht geraten.

Durch die Eigendynamik und Rückkopplungseffekte eskalieren in komplexen Systemen Probleme immer weiter. Hier kommt auch wieder die übertriebene Effizienzsteigerung der letzten Jahre ins Spiel, wodurch es kaum mehr Puffer und Reserven gibt, um größere Störungen abzufangen [Dueck (2015)]. Daher droht ein abrupter Phasenübergang: Der Faden reißt [Bardi (2017)].

Die aktuellen Preissteigerungen hängen nicht nur mit den explodierenden Energiepreisen, sondern auch mit der nicht mehr deckbaren Nachfrage ("Angebot & Nachfrage") zusammen. Ein Teufelskreis, der kaum zu stoppen ist. Gut gemeinte QaD-Lösungen, wie Preisdeckelungen oder Gutscheine werden rasch verpuffen und das Problem nicht lösen. Zudem wurde für viele Lösungen bereits zu viel Zeit vertan.

Auch die Energiewende wird nicht ohne massive Energiebedarfssenkung umsetzbar sein. Das wissen wir seit Langem. In stabilen Zeiten wären diese Maßnahmen deutlich einfacher und billiger zu haben gewesen. Unter Druck und mit der permanenten Krisenbewältigung beschäftigt, wird das immer schwieriger. Aber vorher galt: Geiz ist geil und alles, was sich nicht in kurzer Zeit rechnet, wurde nicht umgesetzt, weil die Energie kaum etwas kostete. Nun holt uns die Realität ein.


3.3 Soziale Verwerfungen

Daher ist es nur eine Frage der Zeit, bis es auch in Europa zu schweren sozialen Verwerfungen kommen wird. Das erste deutsche Stadtwerk warnte kürzlich vor einer derartigen Entwicklung, weil die Gasrechnung für Neuverträge ab Oktober 2022 von bisher 1.500 EUR pro Jahr auf über 4.700 EUR für Haushalte steigen werde. Auch bei der Stromrechnung sind ähnliche Entwicklungen erwartbar. Lag 2020 der Jahresdurchschnittspreis an der Börse noch bei 3,1 Cent pro kWh, ist dieser 2021 auf 9,7 Cent und 2022 bisher auf 19,6 Cent pro kWh explodiert.

Diese Preise werden sich absehbar auf alle Lebensbereiche niederschlagen, wo Energie benötigt wird - also so gut wie überall. Eine rasche Preissenkung ist derzeit nicht in Aussicht, ganz im Gegenteil. Stand Juli 2022 wird mit mehreren Jahren bis zu einer möglichen Beruhigung gerechnet. Das könnte sich durch einen katastrophalen Winter 2022 noch ändern. Sollte die Wirtschaftsleistung massiv einbrechen, werden auch die Nachfrage und damit die Preise sinken. Aber all dies ist nicht zu wünschen.

Eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft kam im Juli 2022 zum Schluss, dass der Anteil der energiearmutsgefährdeten Haushalte im Mai 2022 auf 25,2 Prozent gestiegen sei. Ein Anstieg von rund 11 Prozentpunkten in einem Jahr. Die Großhandelspreise sind inzwischen noch deutlich weiter gestiegen. Die tatsächlichen Kosten kommen durch die zeitverzögerte Abrechnung erst in den nächsten Monaten bei den Kunden an. Damit steigt nicht nur die Inflation auf Rekordhöhe, sondern auch die soziale Sprengkraft.


3.4 Ein mögliches Blackout-Szenario

Wäre das alles noch nicht mehr als genug, steigt durch die dargestellten und weiteren Verwerfungen im europäischen Verbundsystem auch noch die Gefahr für einen europaweiten Strom-, Infrastruktur- sowie Versorgungsausfall ("Blackout"). Da es keine allgemeingültige Definition für den Begriff Blackout gibt, ist es wichtig, eine solche für die jeweilige Betrachtung bereitzustellen. In diesem Sinne verstehen die Autoren unter einem Blackout einen plötzlichen, überregionalen, weite Teile Europas oder zumindest mehrere Staaten betreffenden und länger andauernden Strom-, Infrastruktur- sowie Versorgungsausfall. Eine Hilfe von außerhalb ist nicht möglich.

Selten ist bewusst, dass es sich bei der Stromversorgung um ein europäisches Verbundsystem handelt, das zwar weltweit zu den verlässlichsten zählt, aber trotzdem ein äußerst fragiles System ist, wo zu jedem Augenblick die Balance zwischen Erzeugung und Verbrauch ausgeglichen sein muss. Ansonsten kommt es zum Kollaps. Seit Jahren kumulieren unterschiedliche Stressfaktoren, die einen großflächigen Ausfall begünstigen [Saurugg (2022)]. Die zuvor hier dargestellten Stressfaktoren kommen jetzt auch noch hinzu und erhöhen damit das Risiko für eine europaweite Großstörung.

Grundsätzlich gibt es umfangreiche Sicherheitsmechanismen, die eine solche Großstörung verhindern sollen. Diese wurden jedoch für eine Kraftwerks- und Netzsituation konzipiert, die immer weniger vorzufinden ist. Zudem gibt es keine hundertprozentige Sicherheit, wie auch die europäischen Übertragungsnetzbetreiber bereits 2015 nach dem Blackout in der Türkei festgehalten haben: “A large electric power system is the most complex existing man-made machine. Although the common expectation of the public in the economically advanced countries is that the electric supply should never be interrupted, there is, unfortunately, no collapse-free power system.” [ENTSO-E (2015). S. 46.]

Die Einschätzung, ob ein Blackout nun wirklich möglich ist, ist unter Experten durchaus umstritten. Aber auch eine Pandemie, die unser Leben binnen weniger Tage auf den Kopf stellen würde, war bis März 2020 kaum vorstellbar, genauso wenig ein konventioneller Krieg mitten in Europa. Daher sei hier an die Truthahn-Illusion erinnert.



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