Gegen die Überschätzung des Prognostizierbaren
29.04.2023 | Prof. Dr. Thorsten Polleit
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Daraufhin aufgeschreckt, schreitet nun jedoch die Zentralbank ein, die vorher derartige Rettungsaktionen immer tunlichst vermieden hat, und gewährt den Banken neues Zentralbankgeld, um sie liquide zu halten. Kundige Investoren sehen folglich keinen Grund, sich von Schuldpapieren und Aktien der Banken zu trennen. Diejenigen, die dem Krisenappell gefolgt sind und ihre Bankanleihen und -aktien zu gefallenen Kursen verkauft haben, sind die Verlierer, diejenigen, die die Bankanleihen und -aktien zu verminderten Preisen gekauft haben, sind die Gewinner.Die prognostizierte Krise, ist ausgeblieben, die Prognose der Analysten ist nicht aufgegangen – weil das Verhalten der Geldpolitiker und dessen Folgen nicht richtig eingeschätzt wurden. (Wir haben es hier mit einer selbstzerstörenden Prophezeiung zu tun.)
III.
Es dürfte klar geworden sein, was mit diesen Beispielen verdeutlicht werden sollte: Menschliches Handeln lässt sich nicht so einfach prognostizieren. Es steckt vielmehr sprichwörtlich voller Überraschungen. Wie bereits gesagt, das heißt nicht, dass nicht der ein oder andere sehr wohl in der Lage ist, die Zukunft, das künftige Handeln der Menschen recht gut zu prognostizieren.
Ein solches Talent haben die Unternehmer, also die Menschen, die (aus welchen Gründen auch immer) eine besonders gute Nase haben und zum einen verlässlich abschätzen können, was die Nachfrager künftig zu kaufen wünschen, und die zum anderen auch die Fähigkeiten haben, die gewünschten Produkte mit Gewinn herzustellen. Viele Ökonomen, die ihre Zeit damit zubringen, vorherzusagen (also Prognose-Tableaus zu erstellen und diese mit reichlich Text zu erläutern), haben dieses Talent häufig gerade nicht – denn sonst wären sie ja als Unternehmer tätig und nicht als prognostizierende Ökonomen.
Das heißt nun aber nicht, dass das ökonomische Wissen für Investoren und Unternehmer ganz verzichtbar wäre. Ein Ökonom, der auf einem erkenntnistheoretisch festen Boden steht, kann sehr wohl brauchbares, verwertbares Wissen für Investoren und Unternehmer bereitstellen – und zwar insbesondere durch Erklärung, Aufklärung und (Risiko-)Abschätzung.
Zwar kann der Ökonom nicht (mit wissenschaftlichen Mitteln) prognostizieren, wie die Menschen (einzelne Personen, Gruppen oder die Gesamtheit) künftig handeln werden. Aber er kann sehr wohl erklären, also Auskunft darüber geben, welche (qualitativen, nicht quantitativen) Konsequenzen ihr Handeln unter gegebenen Bedingungen haben wird. Beispiel: Die Ausweitung der Geldmenge wird für höhere Preise und damit Geldwertschwund sorgen – im Vergleich zu einer Situation, in der die Geldmenge nicht ausgeweitet wird. Oder: Die Erhöhung der Energiekosten setzt den materiellen Wohlstand der Menschen herab – im Vergleich mit einer Situation, in der die Energiekosten nicht erhöht werden.
Die Erklärung ökonomischer Zusammenhänge ist so gesehen bereits eine Art der Aufklärung. Aber die Aufklärung, die der Ökonom, der auf erkenntnistheoretisch solidem Boden steht, leistet, geht darüber hinaus. Denn er entlarvt Irrtümer, entzaubert vor allem falsche Lehren, und von denen gibt es heutzutage viele. Falsche Lehren sind nicht immer nur "Unfälle", also ungewollte Fehler, sondern sie werden nicht selten auch bewusst begangen. Gemäß dem Motto: "Man kann sich irren, auch absichtlich."
Gerade die Politik und die Sonderinteressengruppen (die häufig die Politik für ihre Zwecke einzuspannen trachten) bedienen sich der Ökonomen, um ihre Wünsche durchzusetzen. Man denke an dieser Stelle nur einmal an das Fiatgeldsystem, das einige wenige auf Kosten vieler begünstigt, und dass viele (Hauptstrom-)Ökonomen der Öffentlichkeit als gut und richtig anpreisen. Oder man denke an Ökonomen, die die Staatsverschuldung befürworten, weil sie Wachstum und Beschäftigung fördere – wobei die Negativeffekte aber geflissentlich ausgeblendet werden.
Vor dem Hintergrund von Erklärung und Aufklärung kann der Ökonom (der auf erkenntnistheoretisch solidem Grund steht) auch eine Risiko-Abschätzung vornehmen: Er kennt und kann die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Handelns benennen, und er weiß auch, dass das künftige Handeln der Menschen unter Bedingungen steht, die gegenwärtig nicht vollständig oder gar nicht bekannt sind.
Vor diesem Hintergrund wird er sich und seine Leser, Zuhörer und Zuschauer nicht in ungerechtfertigter Sicherheit wiegen, sondern er kann gar nicht anders als ihnen allen deutlich zu machen, dass die Unsicherheit ein nicht wegzudenkendes Phänomen für jeden handelnden Menschen ist; dass man sich hüten sollte vor einer Überschätzung des Prognostizierbaren im Bereich des menschlichen Handelns.
IV.
Erklärung, Aufklärung und Risiko-Abschätzung sind wichtige Erkenntnisbeiträge, die die Ökonomen (die auf erkenntnistheoretisch solidem Boden stehen) bereitstellen, es sind Erkenntnisbeiträge, die Investoren und Unternehmer gewinnbringend einsetzen können. Investoren etwa werden durch sie vor allem dazu ermuntert, die Prognosen von professionellen Finanzmarktakteuren (aus der Banken- und Finanzindustrie) kritisch zu hinterfragen, ihnen nicht leichtfertig auf den Leim zu gehen.
Und Unternehmer finden bei Ökonomen (die auf einem erkenntnistheoretisch soliden Fundament stehen) nicht nur umsichtige Beurteilung wirtschaftlicher Zusammenhänge und zuweilen auch fundierten Rat auf konkrete Handlungsfragen, sie selbst können ihre Kunden (Geschäftspartner, Zulieferer und Produktnachfrager) mit nutzbringenden Erkenntnisbeiträgen versorgen und auf diese Weise Wettbewerbsvorteile erzielen – gerade in einer Zeit, in der verlässliche Analysen und die aus ihnen ableitbaren Orientierungs- und Handlungshilfen ein besonders knappes und damit zusehends wertvoller werdendes Gut sind.
Ein weiterführender Podcast hierzu ist "Die Logik des Handelns". Sie finden ihn hier.
© Prof. Dr. Thorsten Polleit
Auszug aus dem Marktreport der Degussa Goldhandel GmbH