Suche
 
Folgen Sie uns auf:

Das Undenkbare denken: Ein Blick auf die kommende Krise

01.07.2016  |  John Mauldin
- Seite 6 -
Einige Gedanken zum Brexit

Es ist noch viel zu früh, um bezüglich des Brexits ernsthafte Schlussfolgerungen zu ziehen, die über allgemeine Konzepte und Gefühle hinausgehen. Ich verspreche, dass ich in einem künftigen Newsletter viel ausführlicher und detaillierter auf die Implikationen des EU-Austritts eingehen werde, nachdem ich und mein Team Zeit hatten, uns eingehend mit dem Thema auseinanderzusetzen.

1. Mein guter Freund und Schriftstellerkollege Barry Ritholtz hat mich an den Drehbuchautor William Goldman erinnert, der vor fast einem Jahrhundert geboren wurde und einmal sagte, dass niemand irgendetwas mit Gewissheit vorhersagen kann. Wenn Sie denken, dass Sie wissen, wie es nach dem Brexit nun weitergeht, dann haben Sie vermutlich eine Präsupposition, die Ihr Denken beeinflusst. Wir befinden uns hier auf unbekanntem Terrain. Hier gibt es Drachen, und wir haben keine Ahnung, ob sie uns freundlich oder feindlich gesinnt sind. Das hängt ganz davon ab, welchen Science-Fiction-Roman Sie gerade lesen. Denn die Wirtschaft wird schon bald in den Bereich der Science Fiction vorstoßen.

2. Cameron ist zurückgetreten. Was für eine Überraschung. Ich hätte das Gleiche getan, denn wer um alles in der Welt ist schon wahnsinnig genug, in den nächsten zwei Jahren die Verhandlungen mit der EU führen zu wollen? Das ist mit Sicherheit eine gute Methode, um in zwei Jahren zwanzig Jahre zu altern. Das wird die Aufgabe des neuen Premierministers sein.

Welches Ergebnis auch immer am Ende der Verhandlungen steht - niemand wird die Arbeit zu schätzen wissen. Cameron ist jung genug für ein mögliches politisches Comeback, falls sich der EU-Austritt im Nachhinein als schlechte Entscheidung erweist. Und falls sich herausstellt, dass er doch eine gute Wahl war, dann hat Cameron noch immer einen reichen Vater und eine gutaussehende Mutter und kann viele gut bezahlte Reden halten, in Aufsichtsräten sitzen, als Berater arbeiten und haufenweise Geld verdienen. Es gibt wirklich Schlimmeres. Fragen Sie Tony Blair. Oder Bill Clinton.

3. Der nächste Premierminister (wenn sich jemand findet, der masochistisch genug ist, diese Aufgabe zu übernehmen) wird die EU voraussichtlich im Oktober oder November offiziell über die Absichten Großbritanniens informieren. Dann bleiben zwei Jahre, um eine Strategie für den Austritt zu erarbeiten. Diese Situation ist ein klassisches Dilemma.

Je länger die Briten die Verhandlungen mit der EU verzögern, desto deutlicher werden die anderen EU-Mitglieder merken, dass sie das Vereinigte Königreich und den britischen Markt brauchen, ganz zu schweigen von der Expertise des Landes in Hinsicht auf das Finanzsystem und das Bankenwesen. Doch je länger die Briten den Prozess verschleppen, desto größer ist auch die Unsicherheit an den Märkten und desto schwieriger wird die Lage für die britische Wirtschaft, während die Unternehmen entscheiden müssen, ob sie nach Irland oder auf das europäische Festland umziehen, um den uneingeschränkten Zugang zu den EU-Märkten zu behalten.

Die EU würde Großbritannien am liebsten sofort bestrafen, damit sich niemand anderes ein Beispiel am Brexit nimmt. Doch dann werden die Briten den Prozess nur weiter hinauszögern, also nützt es der EU nichts, Drohungen auszustoßen und zu versuchen, schnelle Schritte einzuleiten. Längeres Warten wird jedoch denen Mut machen, die in anderen EU-Staaten zu vergleichbaren Volksentscheiden aufrufen wollen.

Am Ende wird das stehen, was man in der mathematischen Spieltheorie als Nash-Gleichgewicht bezeichnet, d. h. alle Beteiligten - und das sind in diesem Fall nicht gerade wenige - werden versuchen die Entscheidung zu treffen, die für sie selbst am günstigsten ist. Um es ganz deutlich zu machen: Es gibt in diesem Spiel keine guten Lösungen, mit denen alle zufrieden sind. Es ist eine Scheidung, und es gibt selten eine Scheidung, nach der beide Parteien vollkommen glücklich sind. Die Trennung zwischen Großbritannien und der EU wird keineswegs zu diesen glücklichen Einzelfällen zählen. Es wird eine hässliche, gemeine, brutale und kostspielige Angelegenheit, die ein ganzes Heer von Anwälten beschäftigen wird.

Genau aus diesem Grund muss ich die Implikationen des Prozesses erst in Ruhe überdenken, bevor ich hier noch weitere spontane Kommentare veröffentliche. Der Brexit ist ein Wendepunkt. Es ist nur noch nicht sicher, in welche Richtung der Weg von nun an führen wird.

4. Ich werde bereits von allen möglichen Seiten nach meiner Reaktion auf den Brexit gefragt. Nun, mein erster Gedanke dazu ist, dass es sich bei dem Referendum um den ersten Dominostein handelt, auf den weitere Volksentscheide folgen werden, und der verschiedenen separatistischen Strömungen Rückenwind geben wird. Ich habe von einer Umfrage gelesen, derzufolge 90% der Niederländer ein eigenes Referendum ebenfalls befürworten würden, aber ich habe keine Ahnung, was das letztlich bedeutet.

Was wird geschehen, wenn Italien eine Volksabstimmung organisiert? Dort würden sich konträr gegenüberstehende politische Parteien wie die Lega Nord und die Fünf-Sterne-Bewegung (die jüngst die Bürgermeisterwahl von Rom für sich entschied) wahrscheinlich beide im Allgemeinen für den EU-Austritt aussprechen. Das könnte schon für eine Mehrheit in Italien reichen. Niemand weiß, wie die EU danach aussehen würde. Der Brexit könnte tatsächlich einen Zerfall der Europäischen Union herbeiführen, bevor sich das Schuldenproblem erneut zuspitzt.

5. Die Situation in Europa wird gerade so spannend wie die Fernsehserie Game of Thrones. Vergessen Sie die üblichen Promi-Skandale, das hier ist die Realität. Es gibt riesige Vermögen zu verlieren oder zu gewinnen. Jedes Land wird die Kosten eines Austritts gegen die eines Verbleibs in der Staatengemeinschaft abwägen müssen - die Frage lässt sich nicht länger hinauszögern. Wird Deutschland die Kosten und Schulden der anderen EU-Staaten mittragen? Wird Italien freiwillig eine langfristige Rezession und Deflation in Kauf nehmen, so wie Griechenland das getan hat?

Das ist der Preis, den die Länder womöglich zahlen müssen, wenn sie sich für die EU entscheiden. Wird man der EZB und Draghi erlauben, die Schulden einzelner Staaten zu vergemeinschaften, zum Nachteil von Deutschland und anderen nördlichen Mitgliedsstaaten? Glauben Sie ernsthaft, dass die Niederländer oder die Finnen - von den Österreichern ganz zu schweigen - ein solches Vorgehen hinnehmen würden? Und denken Sie, dass die Belgier, die schon seit Jahrzehnten immer wieder kurz vor der Aufspaltung des Landes stehen, ihre Emotionen zurückhalten können? Die Europäer leben wirklich in aufregenden Zeiten.

6. Letztlich wird die Umsetzung des Brexits eine ganze Weile dauern. Von meiner Perspektive aus betrachtet ist noch keineswegs sicher, welche Auswirkungen dieser Schritt in finanzieller Hinsicht haben wird. Vor vielen Jahren sagte ich bereits, dass das britische Pfund sich im Verhältnis zum US-Dollar der Parität annähern würde. Das Gleiche gilt für den Euro: 2003 prognostizierte ich, dass der Wechselkurs der europäischen Währung zunächst auf 1,50 USD steigen und dann im Laufe der Jahrzehnte zurück auf 1,00 USD fallen würde. Ich denke, wir sind auf dem Weg dahin. Mit diesen Vorhersagen liege ich besser, als mit meinen Prognosen zum japanischen Yen - zumindest bisher.

7. Was wird Schottland tun? Verschiedene Führungspersönlichkeiten sowohl in Schottland als auch in Nordirland fordern schon jetzt zusätzliche Volksabstimmungen über einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich. Ich denke für Nordirland wäre der Anschluss an ihre irischen Landsleute sinnvoll, denn dann wäre Nordirland zurück in der EU und zudem mit dem viel wohlhabenderen Irland vereint. Schottland muss sich dagegen entscheiden, ob es vom Regen in die Traufe kommen will. Als Schotte würde ich wahrscheinlich zuerst abwarten wollen, bis sich der Staub gelegt hat, bevor ich mich für eine Seite entscheide.

Soviel also vorerst zu meinen persönlichen Beobachtungen. Wenn ich so darüber nachdenke, könnte ich problemlos mehrere Newsletter zu diesem Thema füllen. Ich muss zugeben, dass es heutzutage mehr Spaß macht, als Wirtschafts- und Finanzkommentator zu arbeiten, als ich jemals gedacht hätte. Nicht, dass die kommenden Ereignisse besonders spaßig werden - aber vor mir liegt einfach so viel fantastisches Material, dass der Schriftsteller in mir seine Begeisterung kaum verbergen kann.


© John Mauldin
www.mauldineconomics.com


Dieser Artikel wurde am 25. Juni 2016 auf www.mauldineconomics.com veröffentlicht und exklusiv für GoldSeiten übersetzt.



Bewerten 
A A A
PDF Versenden Drucken

Für den Inhalt des Beitrages ist allein der Autor verantwortlich bzw. die aufgeführte Quelle. Bild- oder Filmrechte liegen beim Autor/Quelle bzw. bei der vom ihm benannten Quelle. Bei Übersetzungen können Fehler nicht ausgeschlossen werden. Der vertretene Standpunkt eines Autors spiegelt generell nicht die Meinung des Webseiten-Betreibers wieder. Mittels der Veröffentlichung will dieser lediglich ein pluralistisches Meinungsbild darstellen. Direkte oder indirekte Aussagen in einem Beitrag stellen keinerlei Aufforderung zum Kauf-/Verkauf von Wertpapieren dar. Wir wehren uns gegen jede Form von Hass, Diskriminierung und Verletzung der Menschenwürde. Beachten Sie bitte auch unsere AGB/Disclaimer!




Alle Angaben ohne Gewähr! Copyright © by GoldSeiten.de 1999-2024.
Die Reproduktion, Modifikation oder Verwendung der Inhalte ganz oder teilweise ohne schriftliche Genehmigung ist untersagt!

"Wir weisen Sie ausdrücklich auf unser virtuelles Hausrecht hin!"