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Öl, wirtschaftliche Sicherheit und geopolitische Risiken von heute

28.11.2006  |  F. William Engdahl
- Seite 4 -
Zum Verständnis der amerikanischen Außenpolitik seit dem Anfang der Bush-Cheney-Präsidentschaft 2001 ist daher ein Zitat aus einem aufschlussreichen Artikel von Brzezinski aus Foreign Affairs vom September/Oktober 1997 hilfreich:

"Die Mehrzahl der politisch durchsetzungsfähigen und dynamischen Staaten der Welt liegt in Eurasien. Im Laufe der Geschichte kamen alle, die globale Machtansprüche erhoben, aus Eurasien. Die bevölkerungsreichsten Bewerber um regionale Hegemonie, China und Indien, liegen in Eurasien, ebenso wie alle potentiellen Herausforderer der politischen oder wirtschaftlichen Vormachtstellung Amerikas. Nach den Vereinigten Staaten liegen die sechs nächstgrößten Volkswirtschaften und Länder mit den höchsten Rüstungsausgaben in dieser Region, ebenso alle legitimen Atommächte der Welt außer einer und alle heimlichen Atommächte außer einer. In Eurasien leben 75 Prozent der Weltbevölkerung, es produziert 60 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts und besitzt 75 Prozent der globalen Energiereserven. Insgesamt übersteigt das Machtpotential Eurasiens sogar das Amerikas.

Eurasien ist ein Superkontinent, die Achse der Welt. Eine Macht, die die Vorherrschaft in Eurasien hätte, hätte entscheidenden Einfluss auf zwei der produktivsten Weltregionen, Westeuropa und Ostasien. Ein Blick auf die Karte zeigt zudem, dass ein Land mit einer dominierenden Rolle in Eurasien fast automatisch auch den Mittleren Osten und Afrika kontrollieren könnte. Da Eurasien derzeit das entscheidende geopolitische Schachbrett ist, ist es nicht mehr damit getan, eine Politik für Europa und eine für Asien zu entwerfen. Die Entwicklung der Machtverteilung auf der eurasischen Landmasse hat entscheidende Bedeutung für Amerikas globale Vormachtstellung ..."


Wenn wir die Worte des Washingtoner Strategen Brzezinski betrachten und die Axiome des Halford Mackinder als zentrales Motiv der britischen und später der amerikanischen Außenpolitik über mehr als ein Jahrhundert verstehen, wird allmählich klar, warum der neu organisierte russische Staat unter der Präsidentschaft von Wladimir Putin sich in Bewegung gesetzt hat, um sich gegen die von Washington im Namen der Demokratie geförderten Angebote und offenkundigen Bestrebungen zu seiner Zerschlagung zur Wehr zu setzen. Was hat Putin getan, um die russischen Verteidigungslinien zu stärken? Die Antwort besteht aus einem Wort: Energie.


Die russische Energie-Geopolitik

Nach Lebensstandard, Sterblichkeitsrate und wirtschaftlichem Wohlstand gemessen rangiert Russland heute nicht unter den Weltmächten. Gemessen nach seinen Energiereserven ist es ein Koloss. Nach seiner Landmasse ist es immer noch die größte Einzelnation der Welt, mit einer Staatsfläche, die sich vom Pazifik bis an die Schwelle Europas erstreckt. Es besitzt ein riesiges Territorium, reiche Bodenschätze und die weltgrößten Vorkommen von Erdgas, der Energiequelle, die derzeit im Mittelpunkt bedeutender globaler Machtspiele steht. Zudem ist es trotz des Zusammenbruchs der Sowjetunion und des seitdem erfolgten Verfalls des Militärs die einzige Macht der Welt, die mit einer Militärkapazität den USA Konkurrenz machen könnte.

Russland besitzt über 130.000 Ölquellen und etwa 2.000 Öl- und Gasvorkommen, von denen mindestens 900 bisher nicht ausgebeutet werden. Seine Ölvorkommen werden auf 150 Milliarden Barrels geschätzt, die gleiche Menge wie im Irak. Sie könnten noch erheblich umfangreicher sein, wurden aber wegen der Schwierigkeit von Bohrungen in entlegenen Regionen der Arktis noch nicht abgebaut. Bei Ölpreisen von über 60 US-Dollar pro Barrel wird die Exploration in diesen entlegenen Regionen wirtschaftlich interessant. Derzeit gibt es drei Transportwege für das russische Öl in die ausländischen Märkte: nach Westeuropa über die Ostsee und das Schwarze Meer; über die Nordroute; in den Fernen Osten nach China oder Japan und die ostasiatischen Märkte. An der Ostsee hat Russland einen Ölterminal in St. Petersburg und einen erweiterten Ölterminal in Primorsk.

Zu dem staatlichen russischen Netz von Erdgaspipelines, das "Gastransportverbundnetz" gehört ein umfassendes Netz von Pipelines und Kompressorstationen, das sich mit über 150.000 Kilometern Länge über ganz Russland zieht. Nach dem Gesetz ist nur die staatseigene Gazprom zur Nutzung der Pipeline berechtigt. Das Netz ist vermutlich neben dem Öl und Gas selbst der wertvollste Posten im russischen Staatsvermögen. Dies ist das Herzstück von Putins neuer Erdgas-Geopolitik und der Hauptkonfliktpunkt mit westlichen Öl- und Gasgesellschaften und der Europäischen Union, deren Energiekommissar Andras Piebalgs aus dem neuen NATO-Mitgliedsland Lettland stammt, das früher zur UdSSR gehörte.

Als Moskau 2001 klar wurde, dass Washington einen Weg finden würde, die baltischen Republiken in die NATO zu führen, trieb Putin den Bau eines neuen, 2,2 Milliarden US-Dollar teuren, großen Ölhafens in Primorsk an der Ostsee voran. Dieses Projekt, das Baltische Pipeline-System (BPS), verringert die Abhängigkeit der Exporte von Lettland, Litauen und Polen erheblich. Das BPS ist Russlands wichtigster Transportweg für den Ölexport, auf dem Rohöl aus Russlands Ölprovinzen in Westsibirien und Timan-Pechora nach Westen zum Hafen von Primorsk im russischen Teil des Finnischen Meerbusens transportiert wird. Das BPS wurde im März 2006 fertiggestellt und kann pro Tag über 1,3 Millionen Barrels russisches Erdöl in die westlichen Märkte in Europas und darüber hinaus transportieren.

Im gleichen Monat, März 2006, wurde der frühere deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Vorsitzenden eines russisch-deutschen Konsortiums für den Bau einer Ergasleitung ernannt, die etwa 1.200 km unter der Ostsee verlaufen soll. Mehrheitsaktionär in diesem Projekt einer Nordeuropäischen Gas-Pipeline (NEGP) ist mit 51% die russische staatlich kontrollierte Gazprom, das größte Erdgasunternehmen der Welt. Die deutschen Firmen BASF und e.on halten jeweils einen Anteil von 24,5%. Das Projekt, dessen Kosten auf 4,7 Milliarden Euro geschätzt werden, wurde Ende 2005 begonnen und wird den Gasterminal in dem russischen Ostseehafen Vyborg bei St. Petersburg mit dem deutschen Ostseehafen Greifswald verbinden. Das Erdgasfeld von Yuzhno-Russkoye in Westsibirien wird in einem Joint Venture von Gazprom und der BASF erschlossen, um die Leitung zu beliefern. Dies war Schröders letzte größere Amtshandlung als Bundeskanzler und führte zu wütenden Protesten der Washington-freundlichen polnischen Regierung und der Ukraine, die damit beide die Kontrolle über die Gastransporte aus Russland verlieren würden. Trotz ihrer engen Beziehungen zur Bush-Regierung musste Bundeskanzlerin Merkel die Kröte schlucken und das Projekt akzeptieren. Für die deutsche Industrie sind die russischen Energieimporte schlicht unentbehrlich. Russland ist bei weitem Deutschlands größter Erdgaslieferant.

Das riesige Erdgasvorkommen von Shtokman im russischen Teil der Barentsee nördlich der Hafenstadt Murmansk wird langfristig ebenfalls die NEGP mit Gas beliefern. Nach ihrer Fertigstellung wird die NEGP mit ihren zwei parallel verlaufenden Leitungen Deutschland pro Jahr bis zu 55 Milliarden Kubikmeter russisches Gas zusätzlich liefern.

Im April 2006 begann die Regierung Putin mit der Ostsibirien-Pazifik-Pipeline (ESPO), einer 11,5 Milliarden US-Dollar teuren Ölpipeline von Taishet in der Region von Irkutsk in Ostsibirien an die russische Pazifikküste. Gebaut wird sie von Transneft, der staatseigenen russischen Pipelinegesellschaft. Nach ihrer Fertigstellung wird sie täglich bis zu 1,6 Millionen Barrels von Sibirien in den Fernen Osten Russlands und von dort in die energiehungrige asiatisch-pazifische Region, hauptsächlich nach China, pumpen. Die erste Baustufe soll Ende 2008 abgeschlossen sein. Bisher kann sibirisches Öl nur per Schiene an den Pazifik transportiert werden.

Für Russland bringt die Leitung von Taishet nach Perevoznaya den maximalen strategischen Nutzen und ermöglicht gleichzeitig Ölexporte nach China und Japan. In Zukunft kann das Land von dem Hafen von Nakhodka Öl direct nach Japan exportieren. Das ölabhängige Japan sucht verzweifelt nach neuen sicheren Ölquellen außerhalb des instabilen Mittleren Ostens. Die ESPO kann zudem sowohl Süd- als auch Nordkorea durch den Bau von Nebenpipelines von Wladiwostok in beide Länder und China über eine Nebenpipeline von Blagoveshchensk nach Daqing beliefern. Die Taishet-Pipeline bietet einen klaren Rahmen für die energiepolitische Zusammenarbeit zwischen Russland und China, Japan und anderen Ländern der asiatisch-pazifischen Region.




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