"Radikale Bemühungen funktionieren selten, wenn es ihnen an gesundem Menschenverstand mangelt."
19.06.2021 | Claudio Grass
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Claudio Grass: Die europäische Reaktion auf diese Krise, sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene, wurde oft als ineffektiv und chaotisch kritisiert, trotz der extrem harten Einschränkungen für Unternehmen und Bürger. Wir haben beobachtet, wie EU-Mitglieder ihre Grenzen zu ihren Nachbarn schlossen sowie Vorräte und Ausrüstungen beschlagnahmten, die von anderen Mitgliedsstaaten bestellt worden waren, während die zentral geplante Einführung von Impfungen ebenfalls verpfuscht wurde. Glauben Sie, dass diese Krise das Image und die Glaubwürdigkeit der EU beeinträchtigt hat?Fernando del Pino: Was Charles Dickens in "Eine Geschichte aus zwei Städten" über Frankreich geschrieben hat, lässt sich auch auf die EU übertragen: "Es rollte mit außerordentlicher Geschmeidigkeit den Abhang hinunter." Seit einiger Zeit verliert die EU ihren Verstand, vergisst ihre Ursprünge, ihre Rolle als Wiege der griechischen Philosophie, des römischen Rechts und vor allem ihre christlichen Wurzeln und ihre Kultur, oder den Begriff der Freiheit selbst, versklavt von einer gigantischen Bürokratie, die seltsamerweise mehr und mehr den nicht gewählten Institutionen der untergegangenen Sowjetunion ähnelt. So sollte es nicht kommen.
Es gibt eine tiefe spirituelle, politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise, deren unweigerliche Katharsis länger dauern könnte als erwartet, da solche Systeme viel Trägheit und mächtige Eigeninteressen aufweisen. Dieses totalitäre Experiment, das wir unter dem Alibi einer Epidemie erlebt haben, ist in Europa besonders erfolgreich gewesen. Durch Angst und Schuldgefühle ist es den meisten Regierungen gelungen, ehemals freie Bürger davon zu überzeugen, dass ihre Rechte nur bedingt und nicht unabdingbar sind.
Das ist beunruhigend, aber was mich am meisten ängstigt, ist nicht, dass die Machtjunkies den Totalitarismus gekostet haben - und wie menschenfressende Tiger werden sie nichts anderes mehr wollen. Was mich am meisten beunruhigt, ist, dass viele Bürger es akzeptiert und sogar begrüßt haben, in dem bizarren Glauben, dass Tyrannei besser funktioniere. Vielleicht haben die vielen Jahrzehnte des Wohlfahrtsstaates ihre Arbeit getan, durch blindes Vertrauen in Autoritäten, seien es Politiker oder selbsternannte "Experten", durch den Mangel an kritischem Denken, der durch die staatlich verordnete Erziehung entstanden ist, sowie die Akzeptanz jenes verräterischen Tausches, der die Aufgabe der Freiheit im Austausch gegen das falsche Versprechen totaler Sicherheit verlangt.
Dieser Tauschhandel ist jetzt sogar noch heikler, da die "Rettung von Leben" geschickt in den Deal einbezogen wurde. Die übermäßige Nutzung unintelligenter sozialer Medien - die zu Oberflächlichkeit, Unzufriedenheit und einer pathologischen Abhängigkeit von den Meinungen anderer führt, aber auch als Vektor der schnellen Ansteckung von Leidenschaften wirkt - hat ebenfalls zu diesem beeindruckenden Phänomen beigetragen. Ich dachte ehrlich gesagt, dass wir unsere Würde und Freiheit mehr zu schätzen wissen. Was wir erlebt haben, beweist, dass ich falsch lag, und Machtjunkies auf der ganzen Welt haben das zur Kenntnis genommen.
Claudio Grass: Abgesehen von den offensichtlichen wirtschaftlichen Schäden, die durch den Umgang mit der Pandemie verursacht werden, erwarten Sie auch gesellschaftliche und politische Risiken, insbesondere in Europa? Könnte all diese finanzielle Unsicherheit und die soziale Isolation zu einer weiteren Welle der Euroskepsis führen und die Unterstützung für Anti-Euro- und Abspaltungsbewegungen anheizen?
Fernando del Pino: Die gesellschaftlichen und politischen Risiken werden unterschiedlich sein, da es große kulturelle Unterschiede zwischen den europäischen Nationen gibt. Wir haben zum Beispiel in Großbritannien, Frankreich und vielleicht auch Italien einen gewissen Widerstand gegen Regierungsmissbrauch und Lockdowns gesehen, in Deutschland jedoch wenig und leider gar keinen in Spanien. Wer weiß, ob sich das ändern wird. Andererseits hege ich zwiespältige Gefühle der EU gegenüber. Ich liebe Europa und fühle mich auf meinem Kontinent viel mehr zu Hause als in Übersee.
Ich glaube auch, dass wir stolz auf unsere gemeinsame Geschichte und beeindruckende Kultur sein können, aber die EU ist nicht dasselbe wie Europa, so wie eine Regierung nicht dasselbe ist wie das Land und die Menschen, über die sie herrscht.
Daher hindert mich meine Liebe zu Europa nicht daran, die "elitäre" EU-Bürokratie dafür zu kritisieren, dass sie versucht, unsere innigsten Grundwerte, die christlichen Grundlagen Europas, das Konzept der natürlichen Souveränität und viele grundlegende Freiheiten systematisch zu entwurzeln und zu zerstören. Ich würde mir wünschen, dass die EU zu ihren Ursprüngen zurückkehrt: freier Personen-, Waren- und Geldverkehr, freundschaftliche Zusammenarbeit, freie Vereinbarungen und wenig mehr.
Was mir nicht gefällt, ist eine nicht gewählte, riesige Bürokratie, eine sozialistisch geprägte Wirtschaft mit hoher Besteuerung und eine beunruhigende, dunkle ideologische Agenda, die der Wahrheit widerspricht. Andererseits muss man zugeben, dass die Tatsache, dass Spanien zur EU gehört, uns weitgehend vor den schlimmsten Übeln unserer sozialkommunistischen Regierung geschützt hat, dem wohl gefährlichsten Feind von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, den wir seit der Verabschiedung der Verfassung von 1978 erfahren haben.
Was den Euro betrifft, so glaube ich, dass es so offensichtlich ist, dass er ein politisches Konstrukt ist, derart losgelöst von der wirtschaftlichen Realität, dass sein Untergang mir ziemlich unvermeidlich erscheint, auch wenn dies Jahrzehnte dauern könnte. Nochmals, wer weiß!
Der Euro hat für Spanien und vielleicht auch für andere Länder einen riesigen Vorteil: Nationale Regierungen können die Druckerpresse nicht nach Belieben anwerfen, um die Wähler mit einer kurzfristigen Fata Morgana zu täuschen, mittels dieses in den Bäumen wachsenden Geldes vorübergehend die totalitäre Macht zu ergreifen, eine überwältigende Mehrheit zu gewinnen und dann die Türen zur Freiheit zu schließen, wie wir es in Venezuela unter Chavez gesehen haben (der auch vom Rückenwind des perfekten Timings mit dem Öl-Bullenmarkt profitierte).
Paradoxerweise ist die Tatsache, dass derjenige, der in der EU die Druckmaschine bedient, nicht von den Wählern eines Landes gewählt wird (durch gewählte Politiker), ein Schutz vor Chaos. Nun, wahrscheinlich haben die deutschen Wähler die Oberhand über die EZB, aber der Schutz liegt hier für den Rest von uns auf Deutschlands historischem Trauma, nämlich der Weimarer Hyperinflation, die Hitler half, die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen und an die Macht zu kommen. Aus diesem Grund ist Deutschland von allen europäischen Ländern (zusammen mit der Schweiz, zumindest bis die Schweizer Zentralbank beschloss, ein Hedgefonds zu werden) historisch gesehen der standhafteste Verfechter solider Währungen.
Sie wissen, dass die Verzweiflung und die Wut, die durch eine Systemkrise hervorgerufen werden, in Demokratien extrem gefährlich sind und zu enormen Fehleinschätzungen des Volkes führen können, das möglicherweise für gerissene Psychopathen stimmt, die als Retter oder Rächer auftreten. Wir sollten niemals die Lektionen der Geschichte vergessen, und meiner Meinung nach spielen die Zentralbanker und Politiker (wenn es da überhaupt einen wirklichen Unterschied gibt) mit dem Feuer, wenn sie versuchen, die Probleme mithilfe all dieser wirtschaftlichen und geldpolitischen Experimente, die leicht die Büchse der Pandora öffnen könnten, vor sich herzuschieben.
Hoffen wir, dass sich am Ende die Vernunft und der gesunde Menschenverstand durchsetzen werden, aber die perversen politischen Anreize in Demokratien sind sicherlich nicht gerade hilfreich.
Claudio Grass: Ausgehend von den Erfahrungen, die Sie im Laufe der Jahre im privaten Sektor und an den Finanzmärkten gemacht haben, was wäre Ihr Rat für individuelle Investoren und gewöhnliche Sparer in diesen unsicheren Zeiten? Wie bewerten Sie die Rolle von Edelmetallen als Absicherung und Versicherung gegen politische und monetäre Ausschreitungen?
Fernando del Pino: Die Zukunft ist immer unvorhersehbar, und wie ich bereits gesagt habe, sind Vorsicht und Demut entscheidend. Ich denke, wir sollten uns im Überlebensmodus befinden, nicht im "Werde-schnell-reich"-Modus, und gutem Schlaf Vorrang vor gutem Essen geben. Es ist wichtig, dass jeder einzelne Investor im eigenen Takt marschiert, ohne nach rechts oder links zu schauen, um zu sehen, was die anderen so machen.
Jeder von uns hat eine andere Bereitschaft für Risiko, natürlich nicht definiert als Volatilität, sondern als Unvermögen, langfristig eine angemessene Rendite zu erzielen. In diesem Sinne wird uns die einfache Mathematik sagen, dass große Drawdowns die wahren Feinde vernünftiger langfristiger realer Renditen sind. Die Konsequenz ist einfach zu formulieren, wenn auch schwierig umzusetzen, ähnlich wie ein Eintopf mit verschiedenen Zutaten: Diversifikation, Wertorientierung bei weltweiten Aktien, unbequemes Bargeld und etwas Gold.
Die Edelmetalle haben unterschiedliche Eigenschaften und Angebots- und Nachfragedynamiken, und manchmal hat man den Eindruck, dass es ziemlich unmöglich ist, zu etwas zu gelangen, das einer objektiven Bewertung auch nur im Entferntesten nahe kommt. Meiner Meinung nach verdienen sie, insbesondere Gold, jedoch aus einer Vielzahl von Gründen einen Anteil an jeder Asset Allocation. Nennen wir sie die ultimative Hoffnung auf Verteidigung in einer verrückten Welt des unendlichen Geldes und der finanziellen Rücksichtslosigkeit, oder das ultimative Anti-Zentralbank-Experiment-Asset.
© Claudio Grass
www.claudiograss.ch
Dieser Artikel wurde am 08.06.2021 auf www.claudiograss.ch und am 09.06.2021 auf www.claudiograss.ch veröffentlicht und exklusiv für GoldSeiten übersetzt.