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Anatomie der Nominalzinsillusion

18.09.2022  |  Prof. Dr. Thorsten Polleit
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Noch etwas kommt hinzu: Wenn das Vertrauen in die Zentralbank groß ist, werden die Anleger davon ausgehen, dass ein negativer Realzins ein "Versehen" ist, nur von vorübergehender Art ist, bald wieder von der Zentralbank "korrigiert" wird. Um unnötige Transaktionskosten zu vermeiden, halten sie daher auch dann an ihren Bankguthaben und Geldmarktfonds fest, wenn der Realzins negativ geworden ist.

Nun mag man einwenden: Die Anleger werden sich vielleicht das ein oder andere Mal in dieser Weise verhalten. Aber wenn der Realzins über Jahre hinweg nachweislich negativ gewesen ist, dann werden die Anleger ja wohl daraus lernen, ihre Schlüsse ziehen und fortan ihr Geld nicht mehr zu negativen Realzinsen verleihen. Zu entgegnen wäre hier: Vermutlich spielt die Erfahrung, dass der Realzins in den letzten Jahren negativ war, nicht notwendigerweise eine überragende Rolle für die Erwartungsbildung, wie der Realzins künftig ausfallen wird.

Es kann ja sein, dass der Anleger denkt: Künftig wird es besser sein, wird der Realzins wieder positiv! Dass Anleger ihren Erwartungsfehler aus der Vergangenheit nicht verwenden, um ihre Zukunftserwartung in Frage zu stellen, ist durchaus denkbar. Daran arbeiten ja die Zentralbankräte und Hauptstromökonomen, die der Öffentlichkeit einflüstern: Die Zentralbanken sorgen für niedrige Inflation, sie bewahren den Geldwert; und wenn die Inflation doch einmal unerwartet zu hoch ausgefallen ist, dann werden die Zentralbanken sie alsbald wieder korrigieren.

Im Bestreben, die Erwartungshaltung der Marktakteure zu steuern, belassen die Zentralbanken es nicht nur bei Worten. Hier und da erhöhen sie tatsächlich auch mal die Zinsen, um ihre Entschiedenheit, die Inflation "bekämpfen" zu wollen, öffentlich unter Beweis zu stellen.

Welche Erklärung nun auch die richtige sein mag: Fest steht, dass negative Realzinsen, die sich rückblickend (ex post) beobachten lassen, entweder aus Unkenntnis zustande gekommen sind:

Das heißt, die Anleger haben sich im Zeitpunkt der Entscheidung auf Einlage- beziehungsweise Kredittransaktionen eingelassen, die für sie unübersehbar nachteilig waren. Oder aber sie haben sich geirrt, wurden auf dem falschen Fuß erwischt, wurden getäuscht: Sie hatten mit einem positiven Realzins gerechnet, herausgekommen (ex ante) ist jedoch ein negativer Realzins - weil die Zentralbank eine Überraschungsinflation erzeugt hat, also für eine Inflation gesorgt haben, die höher ausgefallen ist, als sie den Anlegern beim Abschluss ihrer Transaktion versprochen wurde.

Es ist verständlich, wenn es Menschen schwerfällt, die Historie negativer Realzinsen als das Ergebnis einer bewussten Täuschung durch die Zentralbank zu werten. Denn das hieße ja, die Versprechungen der Zentralbankräte, der Politiker und die Aussagen vieler Hauptstromökonomen waren im wahrsten Sinne des Wortes falsch; die negativen Realzinsen der Vergangenheit waren nicht etwa Zufall, sondern ein (geld-)politisch gewollt herbeigeführtes Ergebnis.

Eine solche Interpretation ist vor allem für die Menschen schwer verdaulich, denen es schwerfällt, sich eigene Fehleinschätzungen einzugestehen; vor allem dann, wenn es sich um Fehleinschätzungen handelt, die eine Person für lange Zeit als richtig angesehen hat.

Das Festhalten an falschen Einschätzungen ist dabei so etwas wie ein Abwehrbeziehungsweise Verteidigungsmechanismus, eine Art kognitive Dissonanz: Die Erfahrung zeigt mir zwar, dass meine Einschätzung falsch war, aber ich beschließe, diese Erfahrung zu übersehen, sie nicht zu akzeptieren, weil mir das Eingeständnis, falsch gelegen zu haben, nicht behagt. Der Verweis auf eine verfestigte kognitive Dissonanz könnte also ebenfalls eine mögliche Erklärung sein, warum in den letzten 20 Jahren die nominalen Kurzfristzinsen nach Abzug der Inflation im negativen Territorium verharrt haben, und es dennoch Anleger gegeben hat, die ihr Geld (sehenden Auges) zu negativen Realzinsen verliehen haben.

Und nicht zuletzt bleiben Zweifel. Denn aus Erfahrung klug zu werden, ist gar nicht so leicht! Selbst wenn der Realzins in den letzten 20 Jahren im Durchschnitt negativ war, so heißt das ja nicht notwendigerweise, dass er auch künftig negativ sein wird. Könnte es nicht sein, dass die Zentralbanken es künftig besser machen werden? Dass also die Interessen der Geldhalter künftig stärker berücksichtigt werden?

Mit Vertrauensvorschuss sollten Anleger jedoch hier geizig sein. Das empfiehlt der Blick auf das Funktionieren des Fiat-Geldsystems (wie es voranstehend kurz skizziert wurde). Aber auch angesichts der weltweiten Verschuldungslage ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Politik des negativen Realzinses fortgeführt wird, auch wenn die Nominalzinsen gerade etwas angehoben werden - und der Geldhalter weiterhin das Nachsehen haben wird.


Die FED und die Aktienkurse

In der Vergangenheit hat sich eine aufschlussreiche Verbindung gezeigt zwischen der Bilanzsumme der US-Zentralbank (Fed) und den Aktienkursen - und zwar eine positive. Das liegt daran, dass die Fed für eine chronische Ausweitung der Geldmenge sorgt, und diese zusätzliche Liquidität befördert unter anderem auch die Aktienkurse in die Höhe. Vor allem in Krisenzeiten hat die Fed immer wieder "Feuerwehr" gespielt, die Zinsen gesenkt und die Geldmenge noch stärker erhöht. Am aktuellen Rand schrumpft nun die Fed-Bilanz, weil die Zentralbank dem Bankensektor Zentralbankgeld entzieht.

In diesem Zuge haben nun die Aktienkurse nachgegeben. Daraus sollte man jedoch nicht notwendigerweise schließen, die Fed hätte sich davon verabschiedet, den Aktienmarkt, sollte es als politisch erforderlich angesehen werden, weiter zu unterstützen. Sie wird vermutlich einen weiteren Kursrutsch zulassen im Zuge ihrer Zinsanhebungen. Wenn jedoch der Aktien- und Häuserpreisverfall "systemgefährdend" werden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Fed ihre Zinssteigerungen aussetzt und auch in die Kreditmärkte eingreift, um den ganz großen Crash abzuwehren. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Politik letztlich zu immer höherer Inflation führen muss, ist groß.


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Quelle: Refinitiv; Graphik Degussa. *Bargeld plus Guthaben der Geschäftsbanken auf Konten der US-Zentralbank.



© Prof. Dr. Thorsten Polleit
Auszug aus dem Marktreport der Degussa Goldhandel GmbH


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