Im Zeichen des Zinses (Teil 1): Friedrich Nietzsches "Umwertung aller Werte" - und was das mit dem Zins zu tun hat
18.02.2023 | Prof. Dr. Thorsten Polleit
Die "Zeitpräferenztheorie des Zinses" öffnet den Blick auf die Ursache des Zinsphänomens und die überaus weitreichenden gesellschaftlichen Effekte, die Veränderungen des Zinses nach sich ziehen. Eilige Leser können diesen Teil überspringen und sogleich Teil 2 lesen, ohne dadurch den Faden zu verlieren.
Die großen Zentralbanken der Welt heben die Leitzinsen an - nachdem sie sie über viele Jahre hinweg auf extrem niedrigen Niveaus gehalten haben. Die Wirkung, die von der Kreditverteuerung ausgeht, ist überaus weitreichend. Sie betrifft nicht nur in abstrakter Weise Wirtschaft und Finanzmärkte, sondern beeinflusst auch ganz konkret das Werten und Handeln der Menschen.
Das erschließt sich, wenn man einige Erkenntnisse aus der Zinstheorie, genauer: der Zeitpräferenztheorie des Zinses zu Rate zieht. Und vor diesem Hintergrund drängen sich dann auch die mächtigen Worte "Umwertung aller Werte" auf, die Friedrich Nietzsche (1844-1900) im Jahre 1886 prägte und die nachfolgend wiederholt in seinen Schriften der Philosophie und Moralkritik zu finden sind.
Etwas Zinstheorie
Was heißt "Zeitpräferenz"?¹ Ein vermutlich nicht unmittelbar einsichtiger Begriff. In der Ökonomik bezeichnet er die Tatsache, dass der handelnde Mensch die frühere Erfüllung eines Bedürfnisses höher wertschätzt als eine spätere (unter sonst gleichen Umständen). Er bewertet folglich das Gegenwartsgut (also das gegenwärtig verfügbare Gut zur Erfüllung seines Bedürfnisses) höher als das Zukunftsgut (also das erst künftig verfügbare Gut zur Bedürfnisbefriedigung). Anders gesagt: Das Zukunftsgut erleidet einen Wertabschlag gegenüber dem Gegenwartsgut. Und in eben diesem Wertabschlag manifestiert sich der Zins, der "Urzins".
Zeitpräferenz und ihre Manifestation, der Urzins, sind aus dem menschlichen Handeln nicht wegzudenken, ohne einen logischen Widerspruch zu verursachen. Sie beide stecken gewissermaßen (denknotwendig) in jedem Handelnden.
Haben die Menschen eine hohe Zeitpräferenz, bevorzugen sie das Gegenwartsgut in besonderem Maße gegenüber dem Zukunftsgut. Entsprechend stark fällt der Wertabschlag des Zukunftsgutes gegenüber dem Gegenwartsgut aus, sprich: der Urzins ist hoch. Wenn die Menschen eine niedrige Zeitpräferenz haben, so bedeutet das, dass sie das Gegenwartsgut zwar weiterhin höher bewerten als das Zukunftsgut, dass aber der Wertabschlag des Zukunftsgutes vergleichsweise gering ausfällt gegenüber dem Gegenwartsgut - und der Urzins ist niedrig.
Die Zeitpräferenz der Menschen und damit der Urzins sind nicht konstant. Sie hängen von vielen anderen Faktoren ab, und verändern sich auch im Zeitablauf. Menschen, die nahe am Subsistenzniveau ihr Leben fristen, haben in der Regel eine hohe Zeitpräferenz: Das Einkommen, das verfügbar ist, wird verzehrt, für die Zukunft wird nicht vorgesorgt. Wächst der materielle Wohlstand der Menschen, nimmt auch ihre Zeitpräferenz ab: Nur ein Teil des Einkommens wird konsumiert, der andere Teil wird gespart, in fortgeschrittenen Gesellschaften auch investiert, um in der Zukunft besser mit Gütern versorgt zu sein.
Vom Urzins, der wie gesagt in jedem einzelnen Menschen steckt, ist der Marktzins zu unterscheiden. In einer „reinen Marktwirtschaft“ bildet sich der Marktzins durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage: Die einen bieten entsprechend ihrer Zeitpräferenz Ersparnisse an, die anderen fragen sie (ebenfalls entsprechend ihrer Zeitpräferenz) zu Investitionszwecken nach. Der markträumende Zins bringt Angebot und Nachfrage zum Ausgleich, er entspricht dem gesamtwirtschaftlichen Urzins.
Nimmt hier beispielsweise das Ersparnisangebot zu bei unveränderter Nachfrage nach Ersparnissen, sinkt der markträumende Zins. Und der markträumende Zins steigt, wenn zum Beispiel die Nachfrage nach Ersparnissen steigt, während das Angebot von Ersparnissen unverändert bleibt.
Boom & Bust
Unsere Welt ist aber keine reine Marktwirtschaft. Und das hat Folgen für die Zinsbildung. Im heutigen ungedeckten Geldsystem (einem Fiatgeldsystem) steigt die Geldmenge, wenn Zentralbanken und Geschäftsbanken ihr Kreditangebot erhöhen. Das führt dazu, dass der Marktzins künstlich abgesenkt wird: Er fällt unter das Niveau, das sich einstellen würde, wenn es keine Ausweitung von Bankkreditund Geldmenge gegeben hätte. Das wiederum hat bedeutsame Folgen. Ein Aufschwung wird so in Gang gesetzt: Der gesunkene Zins entmutigt das Sparen, lässt den Konsum ansteigen, und mit dem neu geschaffenen Geld (dem keine echte Ersparnis gegenübersteht) werden zusätzliche Investition angeregt.
Der monetären Konjunkturtheorie der Österreichischen Schule der Nationalökonomie zufolge handelt es sich jedoch dabei um einen "Boom", der früher oder später zusammenbrechen muss. Im Boom kommt es zu Fehlentwicklungen: zu Überkonsum und Fehlinvestitionen. Wenn der Zufluss von neuem Kredit und neuem Geld versiegt (weil beispielsweise Banken bei der Darlehensvergabe auf die Bremse treten oder Investoren nicht mehr bereit sind, zu niedrigen Zinsen Schuldpapiere zu erwerben), dann offenbart sich eine Verzerrung der Produktions- und Beschäftigungsstruktur in der Volkswirtschaft, die im Zuge der künstlich gesenkten Zinsen aufgebaut wurde.
Steigt der Zins, fällt der Konsum, die Ersparnis nimmt zu, und das Investitionsvolumen geht zurück. Der Boom kippt in einen Bust um.
Steigende Zeitpräferenz
In der Phase des Booms (der Phase der künstlich abgesenkten Zinsen) geschieht jedoch noch etwas: Die Zeitpräferenz der Menschen steigt. Das heißt, das Gegenwärtige wird noch bedeutsamer als das Zukünftige. Warum ist das so? Wird der Zins künstlich abgesenkt, sparen die Menschen aus ihrem laufenden Einkommen weniger und konsumieren mehr (im Vergleich zu einer Situation, in der der Zins nicht abgesenkt worden wäre). Die Erfüllung der Wünsche im Hier und Jetzt, das Konsumieren, wird höher wertgeschätzt als die Erfüllung der Wünsche zu einem künftigen Zeitpunkt, und die erst durch Sparen möglich werdende künftige Güterversorgung wird entsprechend geringer bewertet.
Die großen Zentralbanken der Welt heben die Leitzinsen an - nachdem sie sie über viele Jahre hinweg auf extrem niedrigen Niveaus gehalten haben. Die Wirkung, die von der Kreditverteuerung ausgeht, ist überaus weitreichend. Sie betrifft nicht nur in abstrakter Weise Wirtschaft und Finanzmärkte, sondern beeinflusst auch ganz konkret das Werten und Handeln der Menschen.
Das erschließt sich, wenn man einige Erkenntnisse aus der Zinstheorie, genauer: der Zeitpräferenztheorie des Zinses zu Rate zieht. Und vor diesem Hintergrund drängen sich dann auch die mächtigen Worte "Umwertung aller Werte" auf, die Friedrich Nietzsche (1844-1900) im Jahre 1886 prägte und die nachfolgend wiederholt in seinen Schriften der Philosophie und Moralkritik zu finden sind.
Etwas Zinstheorie
Was heißt "Zeitpräferenz"?¹ Ein vermutlich nicht unmittelbar einsichtiger Begriff. In der Ökonomik bezeichnet er die Tatsache, dass der handelnde Mensch die frühere Erfüllung eines Bedürfnisses höher wertschätzt als eine spätere (unter sonst gleichen Umständen). Er bewertet folglich das Gegenwartsgut (also das gegenwärtig verfügbare Gut zur Erfüllung seines Bedürfnisses) höher als das Zukunftsgut (also das erst künftig verfügbare Gut zur Bedürfnisbefriedigung). Anders gesagt: Das Zukunftsgut erleidet einen Wertabschlag gegenüber dem Gegenwartsgut. Und in eben diesem Wertabschlag manifestiert sich der Zins, der "Urzins".
Zeitpräferenz und ihre Manifestation, der Urzins, sind aus dem menschlichen Handeln nicht wegzudenken, ohne einen logischen Widerspruch zu verursachen. Sie beide stecken gewissermaßen (denknotwendig) in jedem Handelnden.
Haben die Menschen eine hohe Zeitpräferenz, bevorzugen sie das Gegenwartsgut in besonderem Maße gegenüber dem Zukunftsgut. Entsprechend stark fällt der Wertabschlag des Zukunftsgutes gegenüber dem Gegenwartsgut aus, sprich: der Urzins ist hoch. Wenn die Menschen eine niedrige Zeitpräferenz haben, so bedeutet das, dass sie das Gegenwartsgut zwar weiterhin höher bewerten als das Zukunftsgut, dass aber der Wertabschlag des Zukunftsgutes vergleichsweise gering ausfällt gegenüber dem Gegenwartsgut - und der Urzins ist niedrig.
Die Zeitpräferenz der Menschen und damit der Urzins sind nicht konstant. Sie hängen von vielen anderen Faktoren ab, und verändern sich auch im Zeitablauf. Menschen, die nahe am Subsistenzniveau ihr Leben fristen, haben in der Regel eine hohe Zeitpräferenz: Das Einkommen, das verfügbar ist, wird verzehrt, für die Zukunft wird nicht vorgesorgt. Wächst der materielle Wohlstand der Menschen, nimmt auch ihre Zeitpräferenz ab: Nur ein Teil des Einkommens wird konsumiert, der andere Teil wird gespart, in fortgeschrittenen Gesellschaften auch investiert, um in der Zukunft besser mit Gütern versorgt zu sein.
Vom Urzins, der wie gesagt in jedem einzelnen Menschen steckt, ist der Marktzins zu unterscheiden. In einer „reinen Marktwirtschaft“ bildet sich der Marktzins durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage: Die einen bieten entsprechend ihrer Zeitpräferenz Ersparnisse an, die anderen fragen sie (ebenfalls entsprechend ihrer Zeitpräferenz) zu Investitionszwecken nach. Der markträumende Zins bringt Angebot und Nachfrage zum Ausgleich, er entspricht dem gesamtwirtschaftlichen Urzins.
Nimmt hier beispielsweise das Ersparnisangebot zu bei unveränderter Nachfrage nach Ersparnissen, sinkt der markträumende Zins. Und der markträumende Zins steigt, wenn zum Beispiel die Nachfrage nach Ersparnissen steigt, während das Angebot von Ersparnissen unverändert bleibt.
Boom & Bust
Unsere Welt ist aber keine reine Marktwirtschaft. Und das hat Folgen für die Zinsbildung. Im heutigen ungedeckten Geldsystem (einem Fiatgeldsystem) steigt die Geldmenge, wenn Zentralbanken und Geschäftsbanken ihr Kreditangebot erhöhen. Das führt dazu, dass der Marktzins künstlich abgesenkt wird: Er fällt unter das Niveau, das sich einstellen würde, wenn es keine Ausweitung von Bankkreditund Geldmenge gegeben hätte. Das wiederum hat bedeutsame Folgen. Ein Aufschwung wird so in Gang gesetzt: Der gesunkene Zins entmutigt das Sparen, lässt den Konsum ansteigen, und mit dem neu geschaffenen Geld (dem keine echte Ersparnis gegenübersteht) werden zusätzliche Investition angeregt.
Der monetären Konjunkturtheorie der Österreichischen Schule der Nationalökonomie zufolge handelt es sich jedoch dabei um einen "Boom", der früher oder später zusammenbrechen muss. Im Boom kommt es zu Fehlentwicklungen: zu Überkonsum und Fehlinvestitionen. Wenn der Zufluss von neuem Kredit und neuem Geld versiegt (weil beispielsweise Banken bei der Darlehensvergabe auf die Bremse treten oder Investoren nicht mehr bereit sind, zu niedrigen Zinsen Schuldpapiere zu erwerben), dann offenbart sich eine Verzerrung der Produktions- und Beschäftigungsstruktur in der Volkswirtschaft, die im Zuge der künstlich gesenkten Zinsen aufgebaut wurde.
Steigt der Zins, fällt der Konsum, die Ersparnis nimmt zu, und das Investitionsvolumen geht zurück. Der Boom kippt in einen Bust um.
Steigende Zeitpräferenz
In der Phase des Booms (der Phase der künstlich abgesenkten Zinsen) geschieht jedoch noch etwas: Die Zeitpräferenz der Menschen steigt. Das heißt, das Gegenwärtige wird noch bedeutsamer als das Zukünftige. Warum ist das so? Wird der Zins künstlich abgesenkt, sparen die Menschen aus ihrem laufenden Einkommen weniger und konsumieren mehr (im Vergleich zu einer Situation, in der der Zins nicht abgesenkt worden wäre). Die Erfüllung der Wünsche im Hier und Jetzt, das Konsumieren, wird höher wertgeschätzt als die Erfüllung der Wünsche zu einem künftigen Zeitpunkt, und die erst durch Sparen möglich werdende künftige Güterversorgung wird entsprechend geringer bewertet.