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Gegen die Überschätzung des Prognostizierbaren

29.04.2023  |  Prof. Dr. Thorsten Polleit
I.

Es ist immer wieder wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass man im Bereich des menschlichen Handelns – in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik – nicht so prognostizieren kann, wie in den Naturwissenschaften. In den Naturwissenschaften lassen sich stabile Regelmäßigkeiten, Gesetzmäßigkeiten, aufspüren wie "Wenn A, dann B" oder "Wenn A um x Prozent steigt, dann verändert sich B um y Prozent".

Die gewaltigen Fortschritte in der Naturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten belegen diese Einschätzung eindrücklich. Doch im Bereich des menschlichen Handels geht es, wie es in diesen Worten bereits zum Ausdruck kommt, um den handelnden Menschen, und der ist ganz anders, ist kategorisch anders als die Erkenntnisobjekte in den Naturwissenschaften.

Der Mensch ist ein handelndes Wesen. Er hat Wünsche, Präferenzen, wählt zwischen Alternativen aus, er setzt sich Ziele, die er mit dem Einsatz von Mitteln zu erreichen sucht. Die Erkenntnisobjekte in der Naturwissenschaft wie zum Beispiel Atome, Moleküle, Steine und Planeten handeln nicht, sie reagieren vielmehr nur auf (externe) Impulse in vorhersehbarer Weise.

Genau das ist bei den handelnden Menschen nicht der Fall. Menschen reagieren mal so und mal so, sie haben manchmal gute und manchmal schlechte Laune, und vor allem zeichnet sie eines aus: Sie sind lernfähig. Und das heißt, der Wissensbestand, der ihr Handeln (an-)leitet, ändert sich im Zeitablauf. Und daher ist jede Handlung eines Handelnden stets ein Unikat, etwas Einmaliges, nicht Replizierbares.

Kurzum: Man kann menschliches Handeln (und alles, was aus ihm erwächst: Aktienkurse, Zinssätze, Konjunkturverläufe, Krisen) nicht mit wissenschaftlichen Mitteln (wie sie aus der Naturwissenschaft stammen) sinnvoll prognostizieren. Das heißt natürlich nicht, dass es dem einen oder anderen von uns möglich ist, das künftige Verhalten seiner Mitmenschen (und damit auch Aktienkurs- und Zinsentwicklungen) recht verlässlich vorherzusagen.

Das aber erfolgt dann auf der Basis von sogenanntem thymologischen Wissen: Dabei handelt es sich um Wissen, das wir durch Erfahrungen mit Personen, mit unserem gesellschaftlichen Umfeld gewonnen haben, und es erlaubt uns, das Verhalten von Menschen, das unter bestimmten Bedingungen stattfindet, zumindest in gewissen Grenzen, näherungsweise und für praxistaugliche Zwecke abzuschätzen (wenngleich auch nicht exakt zu prognostizieren).


II.

Diese wenigen Gedanken mögen genügen, um aufzuzeigen, warum wir im Bereich des menschlichen Handelns keine Prognosen anstellen können, wie das in den Naturwissenschaften vielfach (in Laborversuchen) möglich ist. Das soll noch einmal anhand von drei einfachen Beispielen illustriert werden.

Beispiel 1: Die ökonomische Theorie kann aufzeigen, dass die Ausgabe von Fiatgeld erst zu einem Aufschwung (Boom) führt, der aber von einer Wirtschaftskrise (Bust) gefolgt sein wird. In der Praxis können jedoch eine ganze Reihe von Faktoren dafür sorgen, dass der Boom lange andauert (länger, als viele erwarten würden), und dass der Bust entsprechend lange ausbleibt. Beispielsweise können produktive Innovationen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaften erhöhen und auf diese Weise ihre Schuldentragfähigkeit verbessern.

Oder der Zentralbank gelingt es, durch Zinsmanöver und Kreditund Geldmengenvermehrung die Kreditausfallrisiken im Bankensektor zu verringern und auf diese Weise den Boom in Gang zu halten. Man sieht: Die Tatsache, dass Fiatgeld ausgegeben wird, und dass es für Überkonsumption und Fehlinvestitionen sorgt, reicht nicht aus, sofort und unmittelbar daraufhin eine Krise zu prognostizieren. Das Herausbilden einer Krise hängt vielmehr von den konkreten Bedingungen ab, vor allem den künftigen Handlungen der Menschen, die sich aber aus der Gegenwart nicht mit wissenschaftlichen Mitteln vorhersehen lassen.

Beispiel 2: Nehmen wir an, dass sich folgender Zusammenhang immer wieder in der Vergangenheit beobachten ließ: Die Zentralbank senkte die Zinsen, und die Aktienkurse kletterten in die Höhe. (Die Theorie dahinter ist, dass Zinssenkungen die Barwerte der abgezinsten künftigen Unternehmensgewinne und folglich auch die Aktienkurse steigen lässt.) Nun zeigt sich plötzlich jedoch ein anderer Zusammenhang: Die Zentralbank senkt die Zinsen, und die Aktienkurse geben nach; oder die Aktienkurse reagieren gar nicht.

Eine Erklärung dafür ist, dass die Investoren aus der Erfahrung gelernt haben, dass Zinssenkungen der Zentralbanken mit einer Verschlechterung der Konjunkturlage verbunden sind, mit sinkenden Unternehmensgewinnen und Firmenpleiten. Oder: Die Investoren haben bereits im Vorfeld der (erwarteten) Zinsreaktion der Zentralbank die Aktienkurse angepasst, so dass die tatsächliche Zinssenkung keine "Neuigkeit" mehr ist, sondern nur noch die Bestätigung des Erwarteten, und folglich reagieren die Aktienkurse auf die Zinssenkung der Zentralbank nicht – obwohl das, wie die bisherige Erfahrung es gezeigt hatte, zu erwarten gewesen wäre.

In diesem Beispiel hat es also eine (nicht erwartete) Verhaltensänderung der Investoren gegeben, die den bisherigen Zins-Aktienkurs-Zusammenhang aufgehoben hat.

Beispiel 3: Einige versierte Finanzmarktanalysten haben herausgefunden, dass die Geschäftsbanken viel weniger Zentralbankgeld in ihren Kassen halten (in Form von Münzen und Banknoten) als sie tagtäglich fällige Auszahlungsverbindlichkeiten gegenüber ihren Kunden haben. Plötzlich ereignet sich ein schwerer Skandal, der das Vertrauen in die Banken trübt. Die Analysen prognostizieren daraufhin, dass ein "Bankensturm" (ein "Bank Run") einsetzen wird, der die Geschäftsbanken zahlungsunfähig werden lässt – und sie empfehlen, die Anleihen und Aktien betroffener Banken zu verkaufen.


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