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Ein Leben am Abgrund

20.05.2016  |  John Mauldin
- Seite 2 -
Gehören auch Sie zu dieser geschützten Schicht? Wenn Sie diesen Newsletter lesen, dann ist das wahrscheinlich. Zumindest vorerst. Ich weiß, dass manche meiner Leser zu kämpfen haben. Ich lese ihre Kommentare auf meiner Webseite und manchmal schreiben sie mir auch E-Mails. Die meisten lesen meine Artikel jedoch, weil sie über Investmentkapital verfügen und hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklungen auf dem neusten Stand bleiben wollen. Die Schutzlosen haben andere Prioritäten.

Meiner Ansicht nach lassen sich jedoch auch die Geschützten in Unterkategorien einteilen. Ich kenne einige der obersten 0,1% und sie leben ein völlig anderes Leben als ich. Sie verfügen über mehrere Anwesen, Bodyguards, Privatjets, Chauffeure und Leute, die sich für sie um alles kümmern. Man könnte sie die Super-Geschützten nennen.

Ich persönlich zähe nur zu den einfachen Geschützten. Ich lebe in einer hübschen Wohnung mit einem Portier unten im Haus. Bei vielen Routinearbeiten habe ich Unterstützung. Ich lasse keine Mahlzeiten aus, sofern ich nicht gerade abnehmen will. Ich fahre mein eigenes Auto. Ich kann mir keinen Privatjet leisten, aber ich kann zumindest relativ häufig erster Klasse reisen, weil ich bei American Airlines einen Vielfliegerstatus habe.

Eine Ebene weiter unten sind die "Halb-Geschützten". Sie haben ein sicheren Job, einen Hochschulabschluss, ein bisschen Geld auf der Bank und ein Mindestmaß an Freizeit. Sie besitzen den Luxus, sich zu fragen wo ihr Nachwuchs studieren sollte, statt sich fragen zu müssen, ob sie ihre Kinder beim Studium überhaupt finanziell unterstützen können.


Die Scham der Mittelschicht

Diese drei Kategorien umfassen vielleicht etwa 30% der Bevölkerung, wenn wir großzügig sind. Der Rest zählt zu den Schutzlosen. Wie ist das Leben für diese Menschen? Diese Frage ist überraschend schwer zu beantworten. Solange man es nicht selbst erlebt hat, kann man es nicht wirklich wissen. In der Zeitschrift The Atlantic habe ich kürzlich einen sehr interessanten Artikel dazu gefunden. Die Titelgeschichte der Maiausgabe ist "The Secret Shame of the Middle Class" ("Die heimliche Scham der Mittelschicht").

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Der Autor Neal Gabler leitete seinen Artikel mit einem Verweis auf eine Umfrage der Federal Reserve ein, die zu dem Schluss kam, dass 47% der US-Amerikaner im Falle unerwartet entstehender Ausgaben nicht in der Lage wären, 400 Dollar aufzubringen, ohne dafür Geld leihen oder etwas verkaufen zu müssen. (Dieser Anteil gleicht auf bedrückende Weise der Zahl der US-Bürger, die Mitt Romney zufolge von staatlicher Unterstützung abhängig sind und keine Einkommensteuer zahlen.)

Lesen Sie das lieber noch ein zweites Mal. Fast die Hälfte der Bevölkerung kann im Notfall nicht einmal 400 $ in bar aufwenden. Das ist erschreckend. Das kleinste Unglück - Zahnschmerzen, eine kleine Reparatur am Auto, die Stromrechnung eines besonders heißen Sommers - führt dazu, dass sie Schulden aufnehmen oder etwas von ihrem Besitz verkaufen müssen.

Gabler sagt, er wisse, wie sich das anfühlt, da auch er zu diesen Menschen gehört:

"Ich weiß wie es ist, die Kreditgeber wieder und wieder zu vertrösten, um es durch die nächste Woche zu schaffen. Ich weiß wie es ist, den Stolz herunterzuschlucken und andere auffordern zu müssen, meine Honorare zu überweisen, damit ich meine Rechnungen bezahlen kann. Ich weiß wie es, wenn das Eigentum verpfändet und das Bankguthaben von Gläubigern eingezogen wird. Ich weiß wie es ist, buchstäblich nur noch 5 Dollar zu haben, während man auf den nächsten Gehaltsscheck wartet. Ich weiß wie es ist, sich tagelang von nichts anderem als Eiern zu ernähren.

Ich weiß, wie sich die Angst vor jedem Gang zum Briefkasten anfühlt, weil darin immer neue neue Rechnungen liegen, aber nur ganz selten ein Scheck, mit denen sie bezahlt werden können. Ich weiß wie es ist, wenn man seiner Tochter sagen muss, dass man nicht weiß, ob man ihre Hochzeit bezahlen kann und es völlig davon abhängt, ob überraschend etwas Gutes passiert. Ich weiß wie es ist, sich Geld von seinen erwachsenen Kindern leihen zu müssen, denn meine Frau und ich konnten uns eines Tages kein Heizöl mehr leisten."


So ist das Leben am Abgrund im Jahr 2016. Die Statistiken sagen uns, dass allein in den USA Millionen von Menschen so oder noch schlechter leben.

Ich sollte noch darauf hinweisen, dass viele der Geschützten früher selbst schutzlos waren. Ich selbst habe die ersten 35 Jahre meines Lebens in der Klasse der Schutzlosen verbracht. Ich weiß wie es ist, nachts um 2 aufzuwachen und sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wie man es schafft, genug Geld für zwei Personen zu verdienen, die Stromrechnungen zu bezahlen, bevor einem das Licht ausgeschaltet wird, genügend Benzin in den Tank zu kriegen, um überhaupt bis zu den potentiellen Kunden zu kommen, und einen Klienten zu überreden im Voraus zu bezahlen, damit man all das tun kann.

Ich habe in alten Wohnwagen gelebt und sogar meine ersten beiden Töchter sind während dieser Zeit zur Welt gekommen. Damit zählt man nicht gerade zur Mittelschicht. Ich war ein enthusiastischer Unterstützer von Reagan, weil ich eine Veränderung wollte. (In den beiden Präsidentschaftswahlen davor habe ich übrigens für die Demokraten gestimmt).

Wenn man 18% Zinsen auf Kredite zahlen muss und einem die Steuern im Verhältnis zum Einkommen entsetzlich hoch vorkommen, ändert sich die eigene Einstellung zur Inflation und den Aufgaben einer Regierung. Als junger Geschäftsmann hatte ich jahrelang ein Bankkonto in North Dakota, auf das ich Schecks ausgestellt habe, weil es zwischen sieben und zehn Tagen dauerte, bis diese eingelöst werden konnten. Der euphemistische Ausdruck dafür ist "Kassenführung", aber wir nannten es damals Scheckreiterei. Heute würde ich zahlreiche interessierte Investoren finden, wenn ich ein Unternehmen gründen wollte, doch damals konnte ich keinerlei Kredite auftreiben.

Ich verstehe nur zu gut, dass ein altes Auto viel Pflege und Wartung erfordert, um seinen Zweck noch zu erfüllen. Ich lernte schon früh, wie man Autos repariert, mit Werkzeug umgeht und alles Nötige tut, damit das Leben weitergeht. Mir kam nie in den Sinn, dass diese Herangehensweise ungewöhnlich sein könnte. Es war einfach normal für mich. Doch ich war nicht einverstanden mit der Richtung, in die sich unser Land und unsere Wirtschaft meiner Ansicht nach entwickelten.

Ich kann die Frustration der Menschen verstehen, die das Gefühl haben, vom Wachstum und vom Wohlstand der Nation ausgeschlossen zu werden. Ich hatte zumindest das Gefühl, dass ich eine Chance hatte. Wie wir noch sehen werden, glauben jedoch immer mehr Bürger, dass alle äußeren Umstände - und die Menschen, die diese Umstände erschaffen - gegen sie arbeiten.


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