Suche
 
Folgen Sie uns auf:

Ein Leben am Abgrund

20.05.2016  |  John Mauldin
- Seite 3 -
Sie werden vielleicht einwenden, dass selbst verarmte US-Amerikaner ein besseres Leben führen, als viele andere Menschen auf der ganzen Welt. Das mag stimmen. In einigen Ländern tendieren die Armen eher dazu, sich mit ihrem Schicksal abzufinden und trotzdem glücklich zu sein. Hierzulande werden wir wütend. Warum ist das so?

Ich schätze, dass ein Großteil der Wut von Menschen ausgeht, die dachten, dass sie niemals finanzielle Probleme haben würden. Es ging ihnen gut, doch dann ist etwas passiert, z. B. der Verlust des Arbeitsplatzes, eine gesundheitliche Krise, Drogenabhängigkeit, schlechte Investitionen usw. Irgendetwas hat ihren sozialen Abstieg ausgelöst. Vielleicht waren es ihre eigenen Fehler, doch das Leben auf den unteren Stufen der Gesellschaft sagt ihnen nicht zu und sie denken nicht, dass sie dort hingehören.

Neal Gabler schreibt in seinem Artikel über die alles beherrschende Scham, die aus dieser Situation resultiert:

"Wenn Sie mich ansehen, werden Sie nichts davon bemerken. Ich denke gerne, dass ich halbwegs wohlhabend aussehe. Auch mein Lebenslauf verrät nichts. Ich habe als Schriftsteller eine akzeptable Karriere gemacht, habe fünf Bücher und hunderte von Artikeln veröffentlicht, kann einige Auszeichnungen und Mitgliedschaften vorweisen und habe einen guten Ruf.

Selbst wenn Sie einen Blick auf meine Steuererklärung werfen, würden Sie noch nichts ahnen. Ich bin weit davon entfernt reich zu sein, aber ich habe üblicherweise ein solides Mittelstandsgehalt, manchmal sogar ein mit der oberen Mittelschicht vergleichbares Einkommen. Mehr kann man als Schriftsteller nicht erwarten, auch nicht wenn man wie ich noch unterrichtet, Vorträge hält und Fernsehdrehbücher schreibt.

Und mit Sicherheit würden Sie es nie vermuten, wenn Sie sich mit mir unterhalten, denn das letzte, was ich je tun würde - bis jetzt - wäre es, die Unsicherheit meiner finanziellen Lage zuzugeben oder meine 'finanzielle Impotenz', wie ich sie nenne. Sie hat tatsächliches vieles gemeinsam mit sexueller Impotenz, nicht zuletzt auch das verzweifelte Bedürfnis, sie zu überspielen und so zu tun als würde alles bestens laufen. Ehrlich gesagt ist sie vielleicht sogar noch beschämender als sexuelle Impotenz.

'Sie werden von einem Freund eher zu hören bekommen, dass er Viagra nimmt, als dass er Probleme mit seiner Kreditkarte hat', sagt Brad Klontz, ein Finanzpsychologe, der an der Creighton University in Omaha, Nebraska, unterrichtet und sich um Leute mit finanziellen Sorgen kümmert. 'Das ist viel wahrscheinlicher.' Die Vereinigten Staaten sind, wie Donald Trump uns ins Gedächtnis gerufen hat, ein Land der Gewinner und Verlierer, der Alphamännchen und der Schwächlinge. Finanzprobleme sind ein Grund für Schamgefühle, eine tägliche Erniedrigung, ja sogar eine Form des sozialen Selbstmordes. Schweigen ist der einzige Schutz."


Ich bin zwar kein Psychologe, aber ich denke ein Psychologe würde sagen, dass es fürchterlich schlecht für die Gesundheit ist, Gefühle wie Scham, Angst, Wut und Frustration zu unterdrücken. Ich wette, dass darin sogar eine der Ursachen für die steigende Sterberate unter den Menschen mittleren Alters besteht, über die ich im letzten Jahr in einem meiner Artikel geschrieben hatte.

Dennoch kann ich verstehen, wenn Menschen über Rückschläge und Verschlechterungen ihres Lebensstils Schweigen bewahren. Unsere US-Kultur predigt das Überleben der Stärkeren, eine Art Sozialdarwinismus. Wir gehen davon aus, dass die Leute bekommen, was sie eben verdienen. Wenn sie keinen Erfolg haben, ist es ihre Schuld. Da ist es kein Wunder, dass viele ihre Misserfolge und Unglücke herunterspielen oder verstecken. Gabler stellt in dieser Hinsicht eine mutige Ausnahme dar.

In Wirklichkeit verrät uns materieller Erfolg (oder dessen Fehlen) so gut wie nichts über den Charakter, die Werte, die Intelligenz oder die Integrität eines Menschen. Gute, hart arbeitende Leute haben manchmal Pech. Und faule Idioten können großes Glück gehabt haben. Ich weiß nicht, warum das so ist.

Doch wie dem auch sei - Pech ist nicht das, was die Menschen wütend macht. Die Schutzlosen sind wütend, weil sie glauben, dass das Spiel zu ihrem Nachteil manipuliert wird. Zudem denken sie, dass die Geschützten es sind, die es manipulieren.


Bleibende Schäden

So schlecht die Lage auch ist, offiziellen Daten zufolge bessert sie sich. Die Arbeitslosenquote ist auf 5% gefallen und überall werden neue Stellen geschaffen.

Aus Sicht der Schutzlosen sehen diese Zahlen ganz anders aus. Unterbeschäftigung, sinkende Löhne und unsichere Arbeitsverhältnisse gehen nicht in die Statistiken ein. Wenn Sie ein paar Stunden lang für Ihren Nachbarn den Rasen mähen und dafür 50 Dollar bekommen, zählen Sie für den betreffenden Monat nicht mehr zu den Arbeitslosen, auch wenn Sie sonst keinen Cent verdienen.

Gallup veröffentlicht zu diesem Thema regelmäßig eine erhellende Statistik. Der Gallup Good Jobs Index misst, welcher Teil der erwachsenen Bevölkerung mehr als 30 Stunden pro Woche arbeitet und ein regelmäßiges Gehalt bezieht. Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, lag der Anteil bei 45,1%.

Den letzte Woche veröffentlichten offiziellen Arbeitsmarktdaten zufolge zählen 62,8% der US-Amerikaner zur zivilen erwerbstätigen Bevölkerung, während 5% erwerbslos sind. Nach Angaben von Gallup haben jedoch nur 45,1% einen "guten Job". Diese Daten sind nicht direkt miteinander vergleichbar, aber sie lassen doch die grobe Schätzung zu, dass rund ein Fünftel der Erwerbstätigen keine feste oder zumindest keine gute Anstellung hat.

Das Bild wird noch trüber. Mein guter Freund und ehemaliger Geschäftspartner Gary Halbert berichtete letzte Woche über eine neue Studie von der Society for Human Resource Management, deren Daten zeigen, dass sich die amerikanischen Erwerbstätigen im Großen und Ganzen relativ wohl fühlen. 88% der Befragten gaben an, "zufrieden" oder "sehr zufrieden" mit ihrem Job zu sein.

Dennoch stellte die gleiche Studie auch fest, dass 45% sich im Laufe des nächsten Jahres "wahrscheinlich" oder "sehr wahrscheinlich" nach einer neuen Arbeitsstelle umschauen würden. Ihre Zufriedenheit ist also offenbar begrenzt. Nicht erfasst sind in dieser Studie Arbeitslose, die mit ihrer Situation ebenfalls unzufrieden sind.

Die Arbeitslosenquote von 5% verschleiert eine besorgniserregend niedrige Erwerbsquote, die sinkende Produktivität und die Zunahme von Niedriglohnjobs in der Dienstleistungsbranche in Verbindung mit dem Verlust von Arbeitsstellen im mittelständischen Bereich. Sie wird zudem verzerrt von der steigenden Zahl an Zeitarbeitern, unfreiwillig selbstständig Beschäftigten und Freiberuflern, die sich mit Gelegenheitsjobs in der "Gig Economy" über Wasser halten und technisch als erwerbstätig erfasst werden. 5% Arbeitslosenquote heute sind also nicht vergleichbar mit 5% Arbeitslosenquote früher. Es gibt einen Grund dafür, dass sich die Verhältnisse heute anders anfühlen.

Millionen von Bürgern, unzufrieden mit dem bröckelnden American Dream, müssen trotz der historisch niedrigen Arbeitslosenquote jeden Tag kämpfen, um über die Runden zu kommen. Einen Job zu finden ist ein notwendiger erster Schritt, aber nicht die Lösung ihrer Probleme.

Am 9. Mai veröffentlichte das Wall Street Journal einen Bericht zu diesem Thema. Wer seine Arbeit während einer Rezession verliert, muss mit einer ganzen Reihe langfristiger Folgen leben. Bei einer Neuanstellung ist das Einstiegsgehalt oft deutlich niedriger und es dauert Jahre, bis die Betroffenen wieder ihr vorheriges Einkommen erhalten. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Menschen ein eigenes Haus besitzen, ist geringer. Sie haben häufiger psychische Probleme und ihre Kinder sind schlechter in der Schule.


Bewerten 
A A A
PDF Versenden Drucken

Für den Inhalt des Beitrages ist allein der Autor verantwortlich bzw. die aufgeführte Quelle. Bild- oder Filmrechte liegen beim Autor/Quelle bzw. bei der vom ihm benannten Quelle. Bei Übersetzungen können Fehler nicht ausgeschlossen werden. Der vertretene Standpunkt eines Autors spiegelt generell nicht die Meinung des Webseiten-Betreibers wieder. Mittels der Veröffentlichung will dieser lediglich ein pluralistisches Meinungsbild darstellen. Direkte oder indirekte Aussagen in einem Beitrag stellen keinerlei Aufforderung zum Kauf-/Verkauf von Wertpapieren dar. Wir wehren uns gegen jede Form von Hass, Diskriminierung und Verletzung der Menschenwürde. Beachten Sie bitte auch unsere AGB/Disclaimer!



Weitere Artikel des Autors


Alle Angaben ohne Gewähr! Copyright © by GoldSeiten.de 1999-2024.
Die Reproduktion, Modifikation oder Verwendung der Inhalte ganz oder teilweise ohne schriftliche Genehmigung ist untersagt!

"Wir weisen Sie ausdrücklich auf unser virtuelles Hausrecht hin!"