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Ein Leben am Abgrund

20.05.2016  |  John Mauldin
- Seite 5 -
Wenn ich mir diesen Chart ansehe, dann wundert es mich nicht mehr, dass das halbe Land so wütend auf die Geschützten ist. Mich wundert vielmehr, warum das so lange gedauert hat.

Alles, was ich über die Vereinigten Staaten geschrieben habe, trifft auf den Großteil der Industriestaaten zu. Großbritannien wird im nächsten Monat über den Austritt aus der Europäischen Union abstimmen. Einer der Gründe dafür ist der Eindruck, dass die Politik der EU die Erwerbstätigen im Vereinigten Königreich benachteiligt. In den südlichen EU-Staaten sind die Arbeitslosenquoten astronomisch hoch, während aus dem Nahen Osten zusätzlich Flüchtlinge nach Europa strömen. Kanada und Australien wurden dagegen vom Einbruch der Rohstoffpreise besonders hart getroffen.

Dennoch geht es einem Teil der Bevölkerung in all diesen Ländern sehr gut. Warum ist das so? Ein roter Faden, der diese Staaten verbindet, ist die Politik der Zentralbanken. Die Federal Reserve, die EZB und andere Notenbanken haben schon vor Jahren beschlossen, die Zinsen zu senken und dort zu lassen. Vielleicht glaubten sie wirklich daran, dass es hilfreich sei, um das Wachstum wiederherzustellen. Der gewünschte Effet blieb jedoch aus und es wurde zumindest nicht die Art von Wachstum geschaffen, die die meisten Menschen zu schätzen wissen.

Lassen Sie uns großzügig sein und davon ausgehen, dass den Zentralbanken einfach ein Fehler unterlaufen ist. Bernanke, Yellen, Draghi und deren Kollegen wollten den Menschen wirklich helfen. Dann sollte man doch meinen, dass sie irgendwann feststellen, dass ihre Maßnahmen nicht funktioniert haben. Vielleicht geben sie das untereinander ja bereits zu, aber nicht uns gegenüber. Sie wollen den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit nicht verlieren.

Es tut mir sehr Leid, aber es ist wirklich kaum noch Glaubwürdigkeit übrig, die sich retten ließe. Die schutzlose Bevölkerung hat den Glauben längst verloren und erhebt sich, angeführt von Populisten und Demagogen.

Die Zeit sich zu fragen, woher diese Wut rührt, ist vorüber. Wir kennen die Antwort. Mittlerweile ist die Wut zu stark, um sie zu stoppen. Wir werden alle am Abgrund leben, bevor diese Entwicklung abgeschlossen ist. Selbst die Geschützten genießen keinen grenzenlosen Schutz.

Das konservative, republikanische Establishment versucht noch immer sich damit zu beruhigen, dass Trump nur eine Anomalie sei. Dass die Dinge sich im Laufe der Zeit schon wieder normalisieren werden. Doch wenn es nicht zu grundlegenden Veränderungen kommt - und ich frage mich ernsthaft, wie diese umgesetzt werden könnten, insbesondere während einer Präsidentschaft von Clinton - wie wird die Stimmung unter den Wählern Ihrer Meinung nach dann im Jahr 2020 sein? Statistisch gesehen ist es so gut wie sicher, dass wir innerhalb der nächsten vier Jahre erneut eine Rezession erleben. Die Arbeitslosigkeit wird wieder steigen, die Renten werden bedroht sein und noch mehr Menschen werden am Abgrund leben.

Ich hatte auf eine überraschende Studie hingewiesen, die unter weißen Männern mittleren Alters eine steigende Sterberate festgestellt hat. Dieser Anstieg ist die direkte Folge einer höheren Zahl an Selbstmorden und eines zunehmenden Alkohol- und Drogenmissbrauchs - Dinge, die wiederum im Zusammenhang mit den psychologischen Prozessen während einer Depression stehen. Während ich für diesen Artikel recherchierte, stieß ich zudem auf einen Beitrag in der Washington Post mit dem verblüffenden Titel "Death predicts whether people vote for Donald Trump" ("Der Tod sagt vorher, wer Donald Trump wählt"). Wie sich herausstellte, besteht in den Bundesstaaten mit der höchsten Sterberate ein direkter Zusammenhang zwischen der Mortalitätsrate der Bevölkerung mittleren Alters und dem Anteil der Wähler, die Donald Trump favorisieren.

Noch alarmierender wird diese Tatsache, wenn man sie im Kontext der Vergleichsgruppen betrachtet. Die Sterberate von Hispano- und Afroamerikanern ist im letzten Jahrzehnt zurückgegangen. Auch Weiße in anderen Staaten sterben heute später als noch vor zehn Jahren.

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"Hier geschieht etwas, doch es ist nicht ganz klar, was."


Meiner Einschätzung nach haben wir den politischen Rubikon überschritten. Geld spielt im Wahlkampf mit Sicherheit eine große Rolle, aber die Schutzlosen haben entdeckt, dass ihre Stimmen eine noch größere Rolle spielen. Sie haben gemerkt, dass es mehr von ihnen gibt, als von den Geschützten. Wenn man schutzlos ist, dann steht die eigene Wählerstimme nicht zum Verkauf.

Die Wut und die Frustration beschränken sich nicht nur auf die Mittelschicht. Sie versetzen auch die Gebildeten und viele derer, die man normalerweise zu den Geschützten zählen würde, in Aufruhr. Es setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass das System für viele Amerikaner nicht mehr funktioniert. In dieser Situation kommt Donald Trump daher und sagt, dass er die durchschnittlichen US-Amerikaner versteht, dass seine Sympathie dem "Average Joe" gilt.

Er drückt die Frustration der Bevölkerung in Worten aus, die die Mehrheit der Schutzlosen nachvollziehen können. Andere Kandidaten mögen das Problem ebenfalls erkennen und gewillt sein, sich dessen anzunehmen, doch wenn sie sprechen klingt es nur nach dem üblichen politischen Palaver. Man kann von Donald Trump sagen, was man will - wenn er eine Rede hält, hört er sich nicht wie ein typischer Politiker an.

Ich rate den Leuten, ihre alten Investmentstrategien aufzugeben, weil sich die tektonischen Platten der Wirtschaft unter unseren Füßen verschieben und die Prognosen der bislang verwendeten Modelle unzuverlässig machen. Es ist womöglich ebenfalls an der Zeit, sich von den alten Modellen zur Vorhersage politischer Entwicklungen zu verabschieden. Wir befinden uns mitten in einem Umbruch, der die Wahlmuster wahrscheinlich auf grundlegende Weise verändern wird. Frühere Entwicklungen bieten keine Hinweise mehr auf zukünftige Ergebnisse. Diese Maxime müssen wir nun auch auf politischer Ebene anwenden.

Es gibt ein faszinierendes Zitat, welches Lord Salisbury, dem konservativen Premierminister von England während der Regentschaft von Queen Victoria zugeschrieben wird. Als diese sagte, dass die Dinge sich ändern müssten, soll er erwidert haben: "Ändern? Ändern? Ist es denn nicht schon jetzt schlimm genug?"

Diese Antwort wird im Allgemeinen als typische Reaktion eines Angehörigen der konservativen Oberschicht des viktorianischen Zeitalters auf eine Situation verstanden, die seinen persönlichen Status und seine gesellschaftliche Schicht im Allgemeinen bedrohen konnte. Wenn ich das Zitat lese, frage ich mich, welche Veränderungen uns in naher Zukunft bevorstehen.

Ich frage mich, ob wir in zehn Jahren zurückblicken und uns wünschen werden, wir hätten weniger radikale Veränderungen herbeigesehnt - insbesondere, da wir unsicher sind, wie genau das Ergebnis dieser Veränderungen im Großen und Ganzen aussehen wird. Wir befinden uns bereits mitten in einem enormen globalen, geld- und währungspolitischen Experiment und wir wissen nicht, welche Konsequenzen daraus erwachsen werden. Nun kommt dazu möglicherweise noch ein politisches Experiment vergleichbaren Ausmaßes. Schnallen Sie sich besser an.

Diese Themen werde ich in den kommenden Monaten und Jahren immer wieder aufgreifen. Meiner Ansicht nach haben sie nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf unsere finanzielle Planung und unsere Investmentstrategien.


© John Mauldin

Dieser Artikel wurde am 14. Mai 2016 auf www.goldseek.com veröffentlicht und exklusiv für GoldSeiten übersetzt.



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