Gegen Hochinflation hilft nur Stabilisierungsrezession
16.09.2022 | Prof. Dr. Thorsten Polleit
"[...] Unter faulen Äpfeln hat man wenig Wahl." - William Shakespeare.
Ohne eine Stabilisierungsrezession wird sich die Hochinflation im Euroraum wohl nicht beenden lassen. Gerade der Euroraum steht vermutlich vor einer entscheidenden Bewährungsprobe.
Dies- und jenseits des Atlantiks herrscht Hochinflation. Sie ist das Ergebnis einer gewaltigen Geldmengenausweitung durch die Zentralbanken in den vergangenen Jahren, die nun auf einen ungeheuren Kostenschock trifft: Die "grüne Politik" verteuert die Energie in extremer Weise, Russlands Krieg in der Ukraine übt einen zusätzlichen Aufwärtsdruck auf die Energie- und Nahrungsmittelpreise aus, und die Nachwehen der Lockdown-Krise sorgen für verschärfte Güterknappheit und wirken preistreibend.
Angesichts der hohen Kosten, die die Hochinflation für die breite Bevölkerung mit sich bringt, sehen sich die großen Zentralbanken nun gedrängt, die Zinsen anzuheben. Doch wie weit können und werden sie dabei gehen? Das fragen sich viele Investoren. Zumal viele der hochverschuldeten Volkswirtschaften steigende Zinsen nur schlecht oder gar nicht vertragen.
Anziehende Kreditkosten erhöhen den Druck auf Regierungen, politisch unliebsame Reformen - wie zum Beispiel die Steuern anzuheben und/oder Ausgabenkürzungen vornehmen - anzugehen. Sie erhöhen aber vor allem auch das Risiko, dass bei den Investoren Zweifel aufkommen, ob die staatlichen Schuldner ihren Schuldendienst noch vollumfänglich werden bedienen können.
Schon die Erwartung, die Zentralbanken könnte wirklich ernst machen und die Zinsschraube fest anziehen, um die Hochinflation zu beenden, läuft Gefahr, einen Ausverkauf auf den Anleihemärkten zu provozieren. Und das könnte der Anfang eines wahrlich "perfekten Sturms" sein: Heftig steigende Zinsen lösen Besorgnis aus vor um sich greifender Zahlungsunfähigkeit und damit einem möglichen Zusammenbruch der Kreditpyramide, der die Realwirtschaft mit in die Tiefe reißen könnte.
Das liefe auf eine Wiederholung der Kreditkrise hinaus, wie sie die Pleite der US-Investment Bank Lehman Brothers am 15. September 2008 auslöste, und durch die die Weltwirtschaft schwere Schlagseite bekam. Nur würde es diesmal vermutlich noch viel schlimmer kommen: Die weltweite Verschuldung liegt heute sehr viel höher als noch vor 14 Jahren.
Im ersten Quartal 2022 hatte sie einen Rekordwert von 305 Billionen US-Dollar erreicht, das waren etwa 350 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Rezession und stark steigende Zinsen würden den Investoren vermutlich Grund geben, das Ganze als Überschuldungssituation einzustufen, deren Offenlegung bislang durch extrem niedrige Zinsen übertüncht wurde. Die Frage ist: Lässt sich die Hochinflation beenden, ohne eine "Stabilisierungsrezession" zu verursachen?
Unter einer Stabilisierungsrezession wird ein Wirtschaftsrückgang verstanden, durch den ein übermäßiger Auftriebstrend der Güterpreisinflation, eine Hochinflation, gebrochen wird. Eine Stabilisierungsrezession wird dadurch ausgelöst, dass die Zentralbank die Zinsen stark anhebt, um die Kreditkosten merklich zu verteuern, das Wachstum des Kredit- und Geldmengenangebot abzubremsen. Das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes soll nicht nur verringert werden, auch ein absoluter Rückgang der Produktion wird akzeptiert, wenn es nötig erscheint.
Im Zuge einer Stabilisierungsrezession bleiben die Firmen aufgrund ausbleibender Nachfrage auf ihren Erzeugnissen sitzen, einige gehen Pleite. Viele sind gezwungen, ihre Produktion zu kürzen und die Absatzpreise ihrer Waren zu senken. Die Firmen erfahren die Entschiedenheit der Zentralbank, die Hochinflation zu beenden, gewissermaßen am eigenen Leib. Fortan rechnen sie damit, dass die künftige Inflation gering(er) ist. In ihrer Preisgestaltung berücksichtigen sie wieder die Inflation, die ihnen die Zentralbank in Aussicht stellt.
Wenn die Produzenten in einem Hochinflationsumfeld hingegen erwarten, dass die Zentralbank nicht bereit ist, eine Stabilisierungsrezession herbeizuführen - weil beispielsweise der politische Widerstand dagegen zu groß ist -, dann werden sie von einem Fortbestehen der Hochinflation ausgehen. Selbst wenn es eine Konjunkturabschwächung gibt, werden sie daher ihre Erzeugnisse nicht zu verminderten Preisen anbieten. Sie werden die Lagerhaltung bevorzugen in der Erwartung, früher oder später ihre gelagerten Produkte zu höheren Preisen verkaufen zu können.
Wenn also die Produzenten die Entschiedenheit der Zentralbank bezweifeln, die Güterpreisinflation absenken zu wollen, dann wird auch die Erwartung künftig steigender Güterpreise nicht gebrochen. Der Güterpreisauftrieb mag zwar zeitweise stoppen, sein Aufwärtstrend bleibt jedoch intakt.
Erweist sich die Erwartung der Anbieter als richtig - macht also die Zentralbank mit ihrer Inflationspolitik weiter (und treibt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage mit der Ausgabe von neuem Geld an) -, können sie künftig ihre Lagerbestände und Neuerzeugnisse tatsächlich auch zu unveränderten beziehungsweise höheren Preisen verkaufen. Und wenn die Unternehmen bereits in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht haben, dass die Zentralbank die Konjunktur "in Zeiten der Not" gerettet, eine bereinigende Rezession nicht zugelassen hat, auch wenn dadurch die Inflation in die Höhe getrieben wurde, werden sie davon ausgehen, dass es auch künftig keine schwere Rezession geben wird.
Ihre Strategie wird vielmehr sein, ihre Produktionskapazitäten in einer Konjunkturschwäche zu erhalten und bei Umsatzausfall auf zum Beispiel Überbrückungskredite zu setzen.
Keine Frage: Eine Stabilisierungsrezession ist schmerzvoll, verursacht Not und Elend für viele Menschen. Ist sie da überhaupt zu rechtfertigen, um Hochinflation zu beenden? Mit Inflation ist nicht zu spaßen. Sie erzeugt hohe volkswirtschaftliche Kosten, und sie kann - wird sie nicht schnell genug beendet - leicht außer Kontrolle geraten. Zu bedenken ist, dass die Inflation stets das Ergebnis einer politischen Entscheidung ist.
Für Regierungen wird eine erhöhte Inflation zu einem probaten Mittel, sobald sich die Haushaltslöcher nicht mehr auf herkömmlichem Weg durch Steuererhöhungen und Neuverschuldung stopfen lassen, und wenn keine politischen und wirtschaftlichen Reformen ergriffen werden sollen oder können. Spätestens an dieser Stelle kommt die Zentralbank ins Spiel. Sie kauft dann neu ausgegebene Staatsschuldpapiere auf und bezahlt dafür mit sprichwörtlich neu geschaffenem Geld, und das heizt die Güterpreisinflation an.
Weil die Ausgabenfreude der Regierungen bekanntlich keine Grenze kennt, so wird auch die Geldmengenvermehrung rasch grenzenlos. In genau diese unheilvolle Abwärtsspirale sind die offiziellen Währungen geraten: US-Dollar, Euro & Co befinden sich bereits im Griff der Hochinflation. Und setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Staaten zur Aufrechthaltung ihrer Zahlungsfähigkeit immer mehr neu geschaffenes Geld benötigen und bereit sind, dafür höhere Inflation zu akzeptieren, haben die Marktakteure kaum mehr einen Grund, dem Geld noch zu vertrauen.