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Europa: Mit einem Bein im Grab

18.08.2015  |  John Mauldin
- Seite 3 -
Würden Tsipras und Syriza Griechenland tatsächlich aus dem Euro führen, wäre seitens der Wählerschaft mit einer enormen Gegenreaktion zu rechnen, denn im Jahr nach dem Ausstieg wäre die ökonomische Situation sehr unangenehm. Wer als Politiker wiedergewählt werden will, möchte solche Härtefälle lieber vermeiden.

Merkel und ihr Team wussten, dass Tsipras am Ende nachgeben musste. Angela Merkel ist sicher kein heimtückischer Charakter, der die Griechen leiden sehen will. Aber auch sie möchte sich in ihrer eigenen politischen Realität behaupten. Das Komische ist, dass sich die Mehrheit der deutschen Wähler selbst als Opfer sieht. Unschuldig und gutherzig liehen sie den Griechen Geld, und jetzt will Griechenland dieses Geld nicht zurückzahlen.

Die New York Times veröffentlichte letzte Woche einen Kommentar von Jacob Soll, Professor für Geschichte und Rechnungswesen an der University of Southern California und Autor des Buches Financial Accountability and the Rise and Fall of Nations. Er schreibt über seine Erfahrungen auf einer Konferenz in Deutschland, wo er eine Rede hielt und mit anderen über die Situation in Griechenland diskutierte.

Ich werde hier etwas ausführlicher zitieren, weil er meiner Meinung nach einen wichtigen Punkt anspricht. Nachdem Soll lange den Vorträgen deutscher Ökonomen zugehört hatte, erhob er sich, um seine Rede zu halten und anschließend auf dem Podium mitzudiskutieren:

“[…] aber nach Aussage dieser Ökonomen, spielte Deutschland kaum eine Rolle in diesem griechischen Drama. Die Deutschen rückten ihr Geld raus und mussten dann zuschauen, wie sich die Griechen in den letzten vier Jahren praktisch selbst zerstörten. Also hätten die Griechen das, was ihnen passierte, auch irgendwo verdient.

Als ich anmerkte, dass die Deutschen durchaus einen wichtigen Anteil an dieser Situation hätten - allein in den letzten drei Jahren durch ihr Beharren auf Austeritätspolitik und unhaltbare Schuldenstände, keine Fortschritte bei Lockerung der Bilanzrichtlinien und jüngst auch mit der Durchsetzung verheerender Kapitalkontrollen - an diesem Punkt wurden Herr Enderlein und Herr Fuest spöttisch.

Als ich erwähnte, dass die Austeritätspolitik von vielen als eine Neuausgabe der Versailler Verträge von 1919 gesehen wird, welche zukünftig für "chaotische und unzuverlässige" Regierungen in Griechenland sorgen könnten (vor genau solchen hatte Herr Enderlein in einem Kommentar im The Guardian gewarnt), entgegneten sie mir, es mache sie wütend, mit Nazis und Terroristen verglichen zu werden.

Ich merkte an, dass die deutschen Forderungen und auch die chaotischen Folgen eines Grexit schließlich politischen Populismus, Unruhen und soziales Elend heraufbeschwören könnten - ganz abgesehen davon, wie schlecht die Griechen ihre Wirtschaft managten. Darauf entgegnete man mir, dass zahlungsunfähige Schuldner ganz einfach dafür gerade stehen müssten, egal wie hart oder sogar unfair die Kreditbedingungen seien.

Es gäbe Länder, die ihre Wirtschaften wieder in den Griff bekommen hätten und das Leid still ertrügen, wie Finnland oder Lettland. Ein Land wie Griechenland hingegen, wo viele Bürger nicht einmal ihre Steuern bezahlen, sollte eigentlich kein Mitgefühl verdienen. An diesem Punkt erinnerte ich mich wieder daran, dass das Wort “Schulden" im Deutschen auch im Kontext von “Schuld“ steht - also moralischem Mangel oder Verschulden.

Als sich die Podiumsdiskussion auflöste, wurde ich von deutschen Teilnehmern umringt, die mir erklärten, wie Deutschland von den Griechen ausgenommen werde. Sie wollten nicht mehr die Opfer sein.

Ich habe Verständnis für ihre ökonomischen Argumente und auch für die Erklärung, dass andere EU-Mitgliedsländer Deutschland so viel Geld schulden und dass weitere Zahlungsausfälle Deutschlands Untergang sein könnten. Dennoch fiel es mir schwer, zumindest hier in München, die Deutschen als echte Opfer zu sehen.

Hier liegt meiner Meinung nach ein großer kultureller Bruch, der auch ein Risiko für die Deutschen ist. Denn allem Anschein nach bringt dieses Opferdenken die Deutschen außer Fassung und erhitzt die Gemüter. Falls die Deutschen Europa anführen sollten, so können sie das nicht als Opfer tun.“


Zugegeben, auf Konferenzen kommen ganz bestimmte Interessengruppen zusammen, die im Allgemeinen nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind. Dennoch widersprechen die hier beschriebenen Erfahrungen nicht den mir bekannten Meinungsumfragen aus Deutschland und dem nördlichen Teil der EU.

Merkel wird an Beliebtheit verlieren, falls der Eindruck entsteht, sie würde in der Griechenlandfrage nachgeben. Deswegen beharrte sie auf ihrem Standpunkt. Um den Anschein eines vereinten Europas zu wahren, musste den neuen Krediten für Griechenland am Ende trotzdem zustimmen.

Nichtsdestotrotz hat das jüngste Arrangement mit Griechenland das Konzept eines vereinigten Europas unterminiert, wenn nicht sogar zerstört. Deutschland diktierte Griechenland praktisch Forderungen wie bei einer bedingungslosen Kapitulation. Sicherlich kann mit der deutschen Position sympathisieren: Die Griechen waren verschwenderisch, zahlten ihre Steuern nicht, sie bräuchten weitreichende Reformen und so weiter und so fort.

Trotzdem ist es nach wie vor Tatsache, dass die Deutschen, die diese Kredite vergaben, ebenfalls vom System profitiert haben. Fakt ist, dass die Griechen dem Rest Europas eine Summe schulden, die irgendwo im Bereich von einer halben Billion Euro liegt. Die Deutschen werden davon, mehr oder weniger, 200 Milliarden € übernehmen müssen.

Wäre Merkel direkt mit einem Verlust von 200 Mrd. $ konfrontiert, würde ihre Beliebtheit in den Keller gehen. Dann käme ein weiteres Risiko hinzu: Auch andere Länder könnten sich dafür entscheiden, die eigenen Schulden gegenüber Deutschland sausen zu lassen (wenn vielleicht auch aus einem emotionalen Antrieb heraus, was insgesamt aber nichts ändern würde).

Deutschland hängen Verbindlichkeiten im Umfang von einigen Billionen Euro nach, das hatte ich schon vor ungefähr fünf Jahren geschrieben. Je länger Deutschland jetzt neue Kredite gewährt (nicht nur Griechenland, sondern auch dem Rest Europas), umso höher die Gesamtschulden.

Sie werden sich vielleicht fragen: “Aber welches Geld wird dort verliehen?“ Die Kreditvergabe findet im Rahmen von Zusagen und Verbindlichkeiten gegenüber der Europäischen Zentralbank, dem Bankensystem der Eurozone als auch gegenüber den verschiedenen europäischen Finanzmechanismen statt.


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