Die EZB und das Verbot der monetären Staatsfinanzierung. Ein (Er-)Klärungsversuch
28.06.2020 | Prof. Dr. Thorsten Polleit
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Quelle: EZB; eigene Berechnungen. Anleiheportfolio für die Monate März bis Mai 2020. Griechenland nimmt am PEPP teil. (1) Ende Mai 2020 hielten die EZB und die nationalen Euro-Zentralbanken Euro-Staatsschulden von insgesamt 186,6 Mrd. Euro unter dem PEPP (einschließlich Schulden in Höhe 13,9 Mrd. Euro ein, die von supranationalen Institutionen gekauft wurden).
An dieser Stelle ist zudem zu bedenken, dass die Tilgungsbeträge aus fälligen Anleihen reinvestiert werden. Die EZB und die nationalen Euro-Zentralbanken werden daher bis auf Weiteres aktive Kreditgeber bleiben. Dass die Anleihen jemals wieder zurückgezahlt oder in den Markt verkauft werden und damit aus den Bilanzen der Zentralbanken verschwinden, ist aus heutiger Sicht sehr unwahrscheinlich: Das würde zur Vernichtung der Geldmenge führen, die zuvor neu geschaffen wurde; und dadurch würden wirtschaftspolitisch unerwünschte Folgen in Gang gesetzt wie Rezession und Preisdeflation.
Das PEPP ist im Kern nichts anderes als ein noch gewaltigerer Anleiheaufkauf in einer Reihe gewaltiger Anleiheaufkaufprogramme: Mit ihm sollen nicht nur noch mehr Staatsanleihen monetisiert werden, sondern nun auch Unternehmensschulden. Auch das PEPP wird bereits, wie seine Vorgänger, über die Zeitachse immer größer gemacht:
Es wurde im März 2020 mit einem Volumen von 750 Mrd. Euro verkündet. Bereits am 4. Juni 2020 wurde es um weitere 600 Mrd. Euro auf insgesamt 1,35 Billionen Euro aufgestockt. Das PEPP ist ein weiterer Schritt, die geldpolitische Hoheit über den Sekundärmarkt der Euro-Staatsanleihen zu vervollkommnen, so dass die Zinsen auf dem Sekundärmarkt mehr denn je die Zinsen auf dem Primärmarkt bestimmen.
Aus ökonomischer Sicht gibt es überzeugende Gründe, die EZB und die nationalen Euro-Zentralbanken zu bezichtigen, mit ihren Anleiheaufkaufprogrammen - vor allem auch mit dem PEPP - gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung, wie es Artikel 123 AEUV ausspricht, zu verstoßen: Die Geldpolitik diktiert die Zinsen im Sekundärmarkt und damit auch die Zinsen im Primärmarkt. Wenn sich die Rechtsprechung darauf einlässt, die von den Zentralbankräten selbsterfundenen Programm-Kriterien als Prüfstein zu akzeptieren, ob eine monetäre Staatsfinanzierung stattfindet oder nicht, dann muss man den Verdacht haben, sie verliert Sinn und Zweck des Artikels 123 AEUV aus dem Auge.
Eine unbequeme Wahrheit
Zweifellos ist eine (nicht nur für Richter) heikle Situation entstanden, die jedoch alles andere als überraschend ist: Der Euro repräsentiert ungedecktes Geld (wie übrigens auch der US-Dollar, japanische Yen und chinesischer Renminbi). Er wird durch Kreditvergabe im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Nichts geschaffen, und vor allem die Staaten haben kräftig Gebrauch gemacht von den Verschuldungsmöglichkeiten, die der ungedeckte Euro ihnen bietet. Mittlerweile ist eine Situation entstanden, in der die Finanzierung vieler Euro-Staaten ohne weitreichende Markteingriffe der Zentralbanken nicht mehr möglich ist.
Die Lage auf den Finanzmärkten ist nur deswegen "entspannt", weil Investoren damit rechnen, dass die Zentralbanken Gewehr bei Fuß stehen, um bei Problemen einzuspringen: Sollte eine Verkaufswelle durch die Anleihemärkte fegen, werden die Zentralbanken schon auf der Käuferseite stehen und einen Kurseinbruch der Euro-Staatsanleihen und damit steigende Zinsen abwehren - so denken viele Investoren, und zwar weil die Zentralbankräte so denken. Verbieten die Richter der EZB und den nationalen Euro-Zentralbanken, die Staatsschulden zu monetisieren, wäre es vorbei mit der Ruhe auf den Märkten und vermutlich auch mit dem Euro.
Denn Regierende und Regierte machen keine Anstalten, aufgelaufene Staatsschulden zurückzuzahlen. Und in einer "Notlage" lebt man erst recht ganz ungeniert auf Pump. Der politisch diktierte Lockdown als Folge der Coronavirus-Ausbreitung ist dafür ein gutes Beispiel: Um dem vermeintlich größten Übel - der Rezession - zu entkommen, wird ein vermeintlich kleineres Übel (noch größere Verschuldung) akzeptiert. Und wenn irgendwann der Schuldenkollaps droht (ein großes Übel), ist absehbar, dass man im Ausweiten der Geldmenge das vergleichsweise kleinere Übel erblicken wird.
Die unbequeme Wahrheit lautet: Ohne die monetäre Staatsfinanzierung durch die EZB und die nationalen Euro-Zentralbanken droht der "Euro-Systemkollaps". Anders gesagt: Der nominale Erhalt des Euro und der wirtschaftlichen und politischen Strukturen, die er hervorgebracht hat, wird ohne Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung nicht möglich sein. Das muss nicht nur Zweifel an der künftigen Kaufkraft des Euro wecken. Denn wenn das Ziel, die Staaten um jeden Preis flüssig zu halten, alle anderen Ziele beginnt zu überlagern, dann werden auch die Grundlagen der freiheitlichen Gesellschaft und Wirtschaft aufgehoben.
© Prof. Dr. Thorsten Polleit
Quelle: Auszug aus dem Marktreport der Degussa Goldhandel GmbH
(¹) Zwischen dem Kurs und der Rendite eines festverzinslichen Schuldpapiers besteht ein inverser Zusammenhang: Steigt der Kurs der Anleihe, fällt ihre Rendite; und fällt der Kurs, steigt die Rendite.
(²) Beim "Public Sector Purchase Programme" (PSPP) beträgt die Laufzeit der Schuldpapiere mindestens 1 Jahr, maximal weniger als 31 Jahre. Beim "Pandemic Emergency Programm" (PEPP) beträgt die Laufzeit mindestens 70 Tage, maximal weniger als 31 Jahre.
(³) Siehe Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm kompetenzwidrig, Pressemitteilung Nr. 32/2020 vom 5. Mai 2020. Das Gericht kam zum Schluss, Bundesregierung und Bundestag haben das deutsche Grundgesetz verletzt. Denn sie haben es unterlassen dagegen vorzugehen, dass die EZB bei Ihrer Entscheidung, Staatsanleihen aufzukaufen, weder geprüft noch dargelegt hat, dass diese Politik "verhältnismäßig" ist. Der EZB hält das Gericht vor, die Auswirkungen ihrer Anleihekäufe nicht nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten abgewogen zu haben. Die Deutsche Bundesbank darf an den EZB-Anleihekäufen bis auf Weiteres nicht mehr mitwirken, so die Richter - allerdings erst nach einer Übergangsfrist von höchstens drei Monaten.
(⁴) Siehe hierzu Bundesverfassungsgericht, Verfassungsbeschwerden und Organstreitverfahren gegen das OMT-Programm der Europäischen Zentralbank erfolglos, Pressemitteilung Nr. 34/2016 vom 21. Juni 2016, hier Punkt 3 (e). Anmerkung: Am 4. März 2015 hat der EZB-Rat die Ankaufobergrenze auf 25% festgelegt. Der Grund: Viele Anleihen, die die EZB kauft, sind mit einer "Collective Action Clause" (CAC) ausgestattet. Die CAC besagt, dass die Vertragsbedingungen einer Anleihe geändert werden können (z. B. Laufzeitverkürzung, Herabsetzung des Nennwertes), wenn 75 Prozent der Anleihebesitzer der Änderung zustimmen. Die EZB wollte anfänglich nicht in die Situation zu geraten, hier eine Sperrminorität zu haben. Am 3. September 2015 wurde die Ankaufobergrenze auf 33% heraufgesetzt. Die Ankaufsgrenze ist so gesehen also kein hartes, unverrückbares Kriterium.